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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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bekommen. Sie hatte es sich angewöhnt, die Flamme nach dem Aufwachen erst klein zu halten, dann größer werden zu lassen und schließlich wieder zu dimmen, um eine Art Sonnenstand zu imitieren. Auf seltsame Weise fand sie das beruhigend.
    Es war nicht so, als ob die Stollen langweilig gewesen wären. Häufig öffneten sie sich zu Höhlen von atemberaubender Schönheit, mit Felsgestein, das sich wie Wasser an den Wänden entlangkräuselte. Oder sie stießen auf eine Höhle voller Quarzbruchstücke, die aus dem Boden hervorragten und glitzernde Kristallwälder formten. Selbst als sie durch Öffnungen kriechen mussten, die kaum breit genug waren, um darin atmen zu können, war der Fels unter ihren Händen und Knien mit hundert verschiedenen Tönen, Maserungen und Farben marmoriert. Unter normalen Umständen wäre Lily fasziniert gewesen.
    Stattdessen aber sehnte sie sich nach den grünen Wäldern von Giseth oder sogar nach den Menschenmengen in Agora. Hier unten gab es keine Chance, jemand Neues kennen zu lernen. Wenn sie das Geräusch näher kommender Schritte vernahmen, mussten sie sich verstecken. Lily hatte versucht, Septima und Tertius dazu zu bewegen, ihr noch einmal zu erklären, warum sie eigentlich auf der Flucht waren. Doch ihre Mühen brachten ihr lediglich diffuse Kommentare über das Böse des Dirigenten sowie zunehmend misstrauische Blicke ein.
    Das war das andere Problem. Sie kam damit zurecht, auf nacktem Felsgestein zu schlafen, nur mit ihrem Bündel als Kissen – da hatte sie schon Schlimmeres durchgemacht. Sie kam auch damit zurecht, keine Orientierung zu haben, kein Licht und muffig riechende Luft. Doch das mit ihren Gefährten stand auf einem anderen Blatt. Allmählich hegte Lily den Verdacht, dass es keine gute Idee gewesen war, Tertius und Septima zu begleiten.
    Im Gegenteil, das Verhalten der beiden wurde im Laufe der Zeit immer merkwürdiger. Wenn Lily sie nicht darauf ansprach, schienen sie vergessen zu haben, dass sie verfolgt wurden. Tatsächlich konnten sie offenbar nicht länger als ein paar Minuten an einem Gedanken festhalten. Sie plapperten zwar unaufhörlich, sprachen jedoch nie über etwas von Belang. Ab und zu behaupteten sie, zu einem geheimen Rebellenlager zu fliehen, hatten andererseits aber kaum eine Vorstellung davon, wohin sie sich wenden sollten. Womöglich schlugen sie immer nur den Weg von einem versteckten Proviantpaket zum nächsten ein, was auf seltsame Weise zweckmäßig war. Zuerst behaupteten sie, sie hätten den Proviant dort für Notfälle zurückgelassen. Doch bald wurde deutlich, dass es ihnen nie in den Sinn kam, die Reste der Lebensmittel mitzunehmen. Tatsächlich trugen sie abgesehen von ihren Laternen überhaupt keine Vorräte mit sich. Sie schliefen ohne das Bedürfnis nach Bequemlichkeit lang ausgestreckt auf dem Boden, wischten sich morgens den Staub ab und wuschen sich in Wasserbecken, die sich in den feuchteren Höhlen gebildet hatten.
    Vor allem hatten sie offenbar überhaupt keinen Plan. Am siebten Tag führte Tertius sie auf eine halsbrecherische Strecke durch ein Labyrinth aus Stollen, nur um ihnen einen glatten, eiförmigen Kristallbrocken zu zeigen, der aus einer Wand wuchs. Septima starrte den bernsteinfarbenen Stein verzückt an und beobachtete, wie der Lichtschein ihrer Laterne auf seiner Oberfläche tänzelte.
    Lily lehnte sich gegen die Stollenwand und dachte an all die ähnlichen aus den Wänden wachsenden Kristalle, die sie auf ihrer Reise durch die Gänge gesehen hatte. Sie erinnerte sich an ihren eigenen winzigen Kristall, denjenigen, der sie hierhergeführt hatte und der nach wie vor tief in ihrem Bündel verborgen war. Es war einer der Kristalle, die Verity, die Schwester ihres Vaters, mit nach Agora gebracht hatte. Als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, hatte sie ihn seltsam gefunden; nie hätte sie sich vorstellen können, einmal durch eine ganze Welt von ihnen zu gehen.
    Doch in Naru waren sie überall. Einige glitzerten unter ihren Füßen, kaum größer als Fingernägel, während andere ganze Höhlen mit ihrer Pracht bedeckten. Nie sah sie zwei gleiche; sie bestanden aus allen Farben und Formen, waren immer schillernd und lichtdurchlässig. Es war ein beunruhigender Moment, wenn man eine Höhle betrat, deren Wände, Decke und Boden ganz mit ihnen bedeckt waren. Es war dann so, als bewege sich der massive Fels um einen herum.
    Doch das war gar nicht das Sonderbarste an den Kristallen. Erst als Lily versucht hatte zu schlafen,

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