Das Land des letzten Orakels
Signora lächelte traurig. »Mit meinem Gatten kann man derzeit nicht sprechen. Er macht sich zu viele Sorgen über die gegenwärtige Situation.« Sie schüttelte den Kopf. »Eine schreckliche Zeit naht. Es kommt bereits zu Unruhen in den Straßen. Solche Zeiten sind nicht gut für Musiker, die auf die Oberen der Gesellschaft angewiesen sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir revolutionäre Hymnen komponieren. Deswegen suchte mein carissimo Streit. Und was Ihren Bruder betrifft, Ben« – sie schaute zur Tür, hinter der Lauds Stimme immer lauter wurde –, »so glaube ich, dass er seinem Zorn einmal freien Lauf lassen sollte; das ist seine Art zu zeigen, dass er sehr besorgt ist.«
»Er macht sich große Sorgen um Lily«, erklärte Mark. »Das geht uns allen so.«
Die Signora nickte. Auf ihrem Gesicht bildete sich ein neugieriges Lächeln. »Vielleicht, aber nicht auf die gleiche Weise, denke ich …«, sagte sie nachdenklich. »Viele Erinnerungen kommen heute zurück.« Sie schaute Benedicta an. »Die Zeichensprache … daran kann ich mich erinnern. Es ist keine glückliche Erinnerung.«
»Wir wussten immer, wie man ohne Sprache kommunizieren kann«, sagte Ben. Dann beugte sie sich vor, um die Hand der Signora zu berühren. »Signora, wir brauchen wirklich Ihre Hilfe. Lily hat Ihnen geholfen, als Sie glaubten, keine Zukunft zu haben. Können Sie jetzt das Gleiche für sie tun?«
Mark beobachtete das Gesicht der Signora. Offenbar rang sie innerlich mit sich. Dann sprach sie mit leiser Stimme.
»Es ist eine sehr merkwürdige Geschichte«, sagte sie. »Mein Gatte hat sie mir erzählt, als wir heirateten, aber ich habe nie wirklich daran geglaubt.«
Mark beugte sich zu seiner Teetasse vor. »Glauben Sie mir«, sagte er und nahm sich ein wenig Zucker, »an dieses Gefühl gewöhnen Sie sich rasch, wenn wir in der Nähe sind.«
Die Signora lachte. »Das ist wahr.« Sie hob den Blick und schaute sich im Raum um. »Man sollte doch meinen, dieses schöne Haus würde den Sozinhos reichen, nicht wahr? Das tut es eigentlich auch, denn in den beiden anderen Häusern, die uns gehören, leben wir nicht mehr. In einem der beiden habe ich selbst jedoch viele Jahre lang gewohnt.« Sie runzelte die Stirn und zog den Schal ein wenig enger um sich, so als wäre ein kühler Wind aufgekommen. »In dieser Zeit haben Sie mich kennen gelernt, liebe Benedicta, als ich diese unglücklichen Jahre getrennt von meinem carissimo verbrachte. Aber das dritte ist das sonderbarste von allen.« Sie legte die Stirn in Falten. »Es ist ein altes Haus, so alt wie die Familie meines Mannes, voller endloser Korridore und Geheimtüren. Der Familiengeschichte zufolge liegt sein größtes Geheimnis in einem Weg aus der Stadt heraus, auf dem man hinunter nach Naru gelangen kann.« Sie schüttelte den Kopf. »In diesem Haus bin ich selbst nie gewesen. Auch mein Mann nicht, außer um zu überprüfen, dass die Schlösser intakt sind. Aber vielleicht …« Sie lächelte. »Verso, einer unserer Diener, hat viele Jahre in den Universitätsbibliotheken gearbeitet. Er hat mir erzählt, dass er einige Zeit damit verbracht hat, unsere Familiengeschichte zu erforschen. Vielleicht weiß er ja, ob an dieser Erzählung etwas Wahres ist.«
Mark spürte, wie ihn seine Zuversicht verließ. »Und wie weit müssen wir gehen, um ihn zu finden?«, fragte er. Erschöpft stellte er sich einen weiteren Marsch durch den Regen vor, ein weiteres Hindernis, bevor sie endlich Fortschritte machen würden.
»Nicht sehr weit, Sir«, sagte der alte Diener.
Langsam wandte sich Mark zu ihm um. Er hatte den Bediensteten zuvor noch gar nicht richtig wahrgenommen. Der Mann war betagt, musste schon über achtzig Sommer erlebt haben und erfreute sich offenkundig nicht bester Gesundheit. Doch in seinen wässrigen Augen spiegelte sich eine lebhafte Intelligenz wider.
»Können Sie ihnen helfen, Verso?«, fragte die Signora leise. »Ich wäre nicht überrascht, wenn es sich bloß als ein Märchen entpuppen würde.«
Verso verbeugte sich langsam. »Es ist kein Märchen, Signora«, erwiderte er.
Signora Sozinho schaute ihren Diener an und seufzte, so als wäre ihr eine Last von den Schultern genommen worden. »Ich freue mich, das zu hören«, sagte sie. »Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen.«
Verso verneigte sich erneut. »Dürfte ich die Seite sehen, Signora?«, fragte er.
Signora Sozinho stand auf und reichte sie ihm. Dann zog sie sich in das Nachbarzimmer zurück, so
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