Das Land des letzten Orakels
als wäre sie froh, sich der Verantwortung entledigt zu haben.
Verso las die Seite durch und hielt sie dann gegen das Licht. Stirnrunzelnd schürzte er die Lippen. »Ja, ja, natürlich«, sagte er, während er sich die Seite in die Tasche steckte. Dann schaute er Mark und Ben abwägend an.
»Sie möchten in das Land unten reisen?«, fragte er. Dabei klang seine Stimme einen Ton weniger ehrerbietig als zuvor. »Der Legende zufolge ist es eine gefährliche Reise, doch die Belohnung ist hoch. Es heißt, dort seien alle Geheimnisse der Welt verborgen – eine große Fundgrube, eine große Macht …«
Ben unterbrach ihn. »Das interessiert uns nicht«, sagte sie unverblümt. »Wir gehen dorthin, weil Lily dort ist, und sie würde das Gleiche auch für uns tun.«
Verso starrte auf sie herab. Für einen altgedienten Butler hatte er einen sonderbar durchdringenden Blick. Die meisten Diener waren von einem Leben voller Ergebenheit ausgelaugt.
»Nur wegen eines Menschen würden Sie eine solche Reise wagen? Würden es riskieren, in eine Welt hinabzusteigen, die vielleicht nicht einmal existiert, aufgrund eines einzigen Satzes und eines Dieners, der womöglich senil ist?« Er runzelte die Stirn. »Das würden Sie für sie tun?«
Mark wollte es erklären. Er wollte darüber sprechen, dass sie nach seiner Entführung ein ganzes Land durchquert hatte, um ihn zu retten. Wollte erklären, dass sie einander während ihrer Zeit in Giseth nähergekommen waren und dass es ihm vorkam, als hätte er ohne sie keinen Halt. Er wollte erzählen, wie viel sie für Agora getan hatte, wie sehr die Stadt sie wieder brauchte.
Aber er tat es nicht. Er sagte das Erste, was ihm in den Sinn kam. Und das war zufällig auch die größte Wahrheit von allen.
»Selbstverständlich. Sie ist unsere Freundin.«
Der alte Mann nickte zufrieden. »Dürfte ich dann vorschlagen, dass Sie einige Dinge für die Expedition zusammenpacken? Ich fürchte, es wird keine einfache Reise werden …«
KAPITEL 10
Gedanken
Die Höhle war klein und beengt und befand sich tief unter dem Thronsaal des Orakels. Außerdem war sie erstaunlich vollgestopft mit Statuen, Ornamenten und Holztruhen. Der Dirigent stellte seine Laterne auf dem Boden ab, wobei sein Schatten über die Wände des Raums huschte.
»Was ist das hier für ein Ort?«, fragte Lily unbehaglich.
»Eine Gedenkstätte«, erwiderte der Dirigent. »Ein Ort der Erinnerung.«
Lily schauderte. Die niederschmetternde Enttäuschung ihrer Audienz beim Orakel vor zwei Tagen war ihr noch in frischer Erinnerung. Sie brannte darauf, ihre Suche nach dem unbekannten Geheimnis zu beginnen. Und nun hatte der Dirigent sie an einen Ort gebracht, der eine Grabstätte zu sein schien.
»Jedenfalls glaube ich das«, sagte der Dirigent fast beiläufig. »Seit Jahren wurde hier niemand begraben, und um die Wahrheit zu sagen, weiß nur das Orakel selbst etwas über diejenigen, die hier ruhen. Aber das ist jetzt unwichtig. Gegenwärtig ist diese Kammer außerhalb des Resonanzthrons der beste Ort in ganz Naru, um das Hohelied zu hören. Das Hohelied wabert in den niedrigeren Höhlen herum, ruht aber häufig hier.« Der Dirigent deutete ein Lächeln an. »Vielleicht findet es die Atmosphäre angemessen. Hören Sie zu.«
Lily wartete, vernahm jedoch lediglich das Pochen ihres eigenen Herzens. Untätig blickte sie sich in der Höhle um. Sie sah Messingtafeln, die in Abständen überall in den Wänden eingelassen worden waren. Die ersten waren stark angelaufen, die späteren glänzten noch, doch bis auf die letzte trugen alle die gleiche Inschrift. Ein Name und zwei Daten, die jeweilige Spanne des Lebens. Lily trat näher heran, um einen genaueren Blick zu erhaschen. In den neueren Tafeln waren lediglich ein Name und ein Zeichen eingraviert, das der Gravur auf einem Siegelring ähnelte. Die ältesten hingegen hatten zwei Namen, wie ihr Vater und wie sie selbst, obwohl sie das erst vor einem Monat erfahren hatte. Sie hatte noch nie von jemandem gehört, der mehr als nur einen Namen hatte, bevor sie den letzten Brief ihres Vaters mit seiner Unterschrift gesehen hatte. Wie es schien, war dies vor langer Zeit gebräuchlicher gewesen.
Die letzte Tafel war leer und sah recht neu aus. Lily hauchte darauf und schrieb dann auf die beschlagene Platte ihren Namen. Lilith d’Annain, 129 … Das war zwar makaber, schien jedoch hier, unter all den Toten, nur angemessen.
In diesem Moment hörte sie es.
Es klang wie ein gerade noch zu
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