Das Land des letzten Orakels
soll es, warum sollte ich weitermachen? … Ich liebe ihn, ich weiß, das ist falsch, aber ich liebe alles an ihm … dummer Mann! Er wird sich umbringen lassen, und ich werde diejenige sein, die es tut …
Der Dirigent hörte auf zu spielen. Das Geflüster verebbte erneut zu einem unverständlichen Zischen. Lily rieb sich die schmerzenden Schläfen, während sie die gehörten Gedanken schon wieder vergaß.
»Ich habe keine Ahnung, wie es funktioniert«, sagte er, während er von dem Hocker vor der Glasharmonika aufstand. »Ich glaube, das Instrument wurde hier als Teil einer Grabbeigabe zurückgelassen. Aber irgendetwas an dem Klang dieses Instruments scheint seine Entsprechung in dem Hohelied zu finden, sodass es leichter zu verstehen ist.«
Lily gab keine Antwort. Sie war nicht imstande, sich von dem berauschenden Erlebnis des durchdringenden Hohelieds loszureißen. Es fühlte sich an, als strömten ihr reine Informationen durchs Gehirn, gestochen scharf und unverfälscht, jedoch quälend unvollständig wie ein halb verbranntes Pergament.
Ein verbranntes Pergament …
Das Bild des Fragments aus dem Mitternachts-Statut, auf das Lily in Agora gestoßen war, kam ihr in den Sinn. Dieses Stück Pergament hatte alles ausgelöst. Seit jener Nacht, in der sie ein paar unvollständige Sätze gelesen hatte, die ihr Leben zu beherrschen schienen, war für sie nichts mehr so gewesen wie zuvor. Hatte sie all diese Zeit nur danach gesucht, die fehlenden Teile zu finden?
Dann sollte es so sein. Sie wusste, was sie aus dem Hohelied heraushören musste. Es war unwahrscheinlich, dass das einzige dem Orakel unbekannte Geheimnis etwas Banales sein würde.
»Danke, Dirigent«, sagte sie aufrichtig. »Ich denke, ab jetzt komme ich allein zurecht.«
Er widersprach ihr nicht, denn es lag ein Ausdruck in ihren Augen, der keine Widerrede duldete. Doch als er zum Ausgang schlurfte, schaute er sich noch einmal um.
»Denken Sie daran«, sagte er leise, »wir Naruvaner verbringen unser ganzes Leben mit der Suche nach Geheimnissen, und selbst wir mögen es nicht, allzu lange dem Hohelied zuzuhören. Manche Gedanken können einem zu viel verraten.«
Doch Lily saß bereits an der Harmonika und hörte ihn kaum noch.
Die Tage verstrichen.
Ich werde ihn verstecken, das werde ich tun … Soll ich Fisch oder Obst nehmen? … Alle marschieren in einem anderen Takt, einem neuen Rhythmus … Damit komme ich nicht zurecht … Fisch, Obst, das ist doch egal … Was sollte ich einpacken? Wohin habe ich es gelegt? …
Zu Anfang ging sie hinaus, um in der Gemeinschaftskantine zu essen, und schlief anschließend in ihrer eigenen, privaten Höhle. Doch im Laufe der Zeit verbrachte sie immer mehr Stunden in den Grabkammern. Manchmal schaute sie vom Instrument hoch und sah, dass Brot und Trockenfleisch auf einem Tablett, das auf einer der Truhen stand, auf sie warteten. Wer es ihr brachte, sah sie nie. Wenn sie hungrig war, aß sie, indem sie mit dem Jagdmesser, das sie ihrem Bündel entnommen hatte, Stücke abschnitt. Ab und zu erinnerte sie sich daran, dass sie auch schlafen musste. Doch den Großteil der Zeit drückte sie das Pedal nieder, spreizte die Finger über die Harmonika und ließ das Hohelied für sie singen.
Ist der Zeitpunkt jetzt gekommen? Noch nicht … Sucht er mich? Vielleicht schon, aber hier bin ich in Sicherheit; der Doktor wird sich um mich kümmern … Kann ich ihr trauen? … Kann ich ihm trauen? … Ich weiß, dass ich diesen Stoff schon einmal irgendwo gesehen habe … Dieses Gesicht! Dieses Gesicht erkenne ich wieder …
Je mehr sie hörte, desto mehr wollte sie wissen. Meistens erinnerte sie sich daran, dass es ihre Aufgabe war, nach dem einen Geheimnis zu suchen, das dem Orakel entgangen war. Manchmal aber konnte sie der reinen Schönheit, die dem Hohelied innewohnte, nicht widerstehen. Dann lehnte sie sich zurück und ließ eine Million unzusammenhängender Gedanken durch ihren Geist strömen, während sie am ganzen Körper durch die Musik, die allem innewohnte, bebte.
Ich muss den Handel aufrechterhalten, vielleicht habe ich dann diese Woche etwas zu essen … Die letzten Schritte sind in Vorbereitung, und trotzdem verzögert es dieser Mann, was denkt er sich nur? … Das ist Schnee von gestern, mein Freund, wir werden uns nie wieder begegnen … Hat er mir gerade einen Klaps auf den Hintern gegeben? Der Nerv … Schmerz hört gar nicht mehr auf, warum hört es nicht auf? …
Was sie spielte, schien nicht wichtig zu
Weitere Kostenlose Bücher