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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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vernehmender Seufzer. Normalerweise wäre sie nun überrascht gewesen, vielleicht sogar fasziniert von der Aussicht, das Hohelied des Flüsterns und damit die Gedanken anderer zu vernehmen. Doch zwischen diesen Grabplatten war das kein Geräusch, das sie besonders gern hören wollte.
    »Sie können so lange lauschen, wie Sie wollen«, fuhr der Dirigent fort, ihre Stimmung nicht wahrnehmend. »Sie werden nicht gestört werden. Hier unten ist schon seit Jahren niemand mehr gewesen.«
    Lily schaute sich im Raum um. Viele der Truhen standen offen, und ein Großteil des Inhalts lag verstreut herum und wurde von den in die Wand eingelassenen Kristallen beleuchtet.
    »Niemand?«, fragte sie und zog dabei die Brauen hoch. Der Dirigent trat zu einem großen, mit einem bestickten Tuch bedeckten Gegenstand in der Mitte des Raums.
    »Niemand außer mir«, räumte er ein. »Ich war neugierig. Wir bekommen so wenige Gegenstände aus der Welt oben zu sehen, und diese Kammer hier birgt eine Reihe von spektakulären Wundern. Ich war mir sicher, dass die früheren Besitzer nichts gegen eine kleine Begutachtung einzuwenden gehabt hätten.« Er drehte sich wieder um. »Ich glaube, sie hätten es nicht gewollt, vergessen zu werden.«
    Lily kniete sich neben eine der Truhen. Sie war klein und mit Rosenholz eingelegt. Lily sah, dass sich unter den Schmuckstücken ein kleines hölzernes Schaukelpferd befand. Wie alt es war, vermochte sie nicht zu sagen, doch die Farbe war kaum abgeblättert. Es war noch nie benutzt worden.
    »Wahrscheinlich nicht«, sagte sie und runzelte die Stirn. »Sie wissen wirklich nicht, wer sie waren?«
    Der Dirigent begann das Tuch von dem Gegenstand in der Mitte des Raums zu ziehen. »Als ich zum Dirigenten ernannt wurde, habe ich einmal das Orakel danach befragt. Doch sie hat sich geweigert, es mir zu sagen. Sie meinte, es werde erst dann offenbart, wenn die Zeit dafür reif wäre. Wo wir gerade von Wundern sprechen« – mit einem letzten Ruck zog er die Decke endgültig beiseite – »was halten Sie hiervon?«
    Lily starrte hin. Im Lichtschein der Lampe sah der Gegenstand wie ein großes, seltsam geformtes Cembalo aus. Doch als sie näher trat, bemerkte sie, dass es keine Tastatur hatte und etwas in dem Rumpf des Instruments im Lampenlicht schimmerte. Es sah aus wie eine Abfolge von auf der Seite liegenden, ineinandergeschobenen Glasglocken.
    »Und?«, fragte der Dirigent stolz. »Was halten Sie von der Glasharmonika?«
    »Tja …«, erwiderte Lily, unsicher, was sie dazu sagen sollte. »Sie ist sehr … beeindruckend, aber was hat das mit dem Hohelied zu tun?«
    Der Dirigent lächelte, setzte sich auf einen Hocker vor das Instrument und trat auf ein Pedal, über welches die Glasglocken in Rotation versetzt wurden.
    »Hören Sie«, sagte er.
    Bedächtig und gewissenhaft befeuchtete sich der Dirigent den Finger und berührte den Rand einer der Glocken.
    Ein einzelner, reiner Ton war zu hören. Lily kannte diesen Klang. Sie hatte ihn oft gehört, wenn sie Gläser gereinigt und sich damit amüsiert hatte, mit dem feuchten Finger um den Rand zu fahren. Es summte und glitzerte zugleich. Der Dirigent spreizte die Finger, um mehrere der sich drehenden Glocken zu berühren, und die Töne vereinten sich zu einem Akkord.
    Dann fing er an zu spielen.
    Lily nahm kaum wahr, was er spielte. Auf diesem seltsamen Instrument mit seinen heulenden Tönen hätte sich alles eindringlich angehört. Doch während die Musik durch die Höhlen drang, geschah noch etwas anderes. Das Flüstern wurde deutlicher.
    Es war fast so, als würde es durch die Harmonika angezogen oder als schärften dessen Töne Lilys Gehör, halfen Lily, sich auf die richtigen Geräusche zu fokussieren. Was immer es war, die Stimmen wurden deutlicher und huschten ihr jäh, aber verstohlen und stoßweise durch den Kopf.
    Das kann ich nicht tun, nein, das ist gefährlich … Was, wenn er es herausbekommt? Nein, er ist zu sehr mit seinen Gästen beschäftigt … Sie wirkt freundlich, aber wer weiß, was sie erlitten haben muss … Ich werde sie finden, ich muss sie finden …
    Lily hielt sich die Schläfen. Die Gedanken anderer Menschen summten in ihrem Kopf. Sie spürte, wie ihr Herz hüpfte und sie eine Gänsehaut überlief. Sie lächelte. Das war es, wonach sie die ganze Zeit gesucht hatte. Das war es, was sie aus Agora und durch Giseth getrieben hatte. Hier lag so viel Wahrheit verborgen. So viele Antworten … wenn sie sie doch nur hätte greifen können.
    Was

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