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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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drehenden Glas nahm, ließ sie wieder zu Sinnen kommen. Zu ihrer Überraschung erkannte sie, dass die letzte Stimme nach wie vor ihren Namen rief.
    »Lily, kannst du mich hören?«
    Sie schwenkte auf dem Hocker herum. Ein junger Mann stand neben der Laterne, zum großen Teil im Schatten.
    »Wer …?«, fragte Lily, noch immer desorientiert. Es fiel ihr schwer, das, was sie sah, mit den Echos in Einklang zu bringen, die ihr nach wie vor im Kopf herumschwirrten. Noch einen Moment zuvor war sie allwissend gewesen, im Einklang mit den Gedanken von Millionen. Auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren wurde jedes Mal schwerer.
    »Ich bin es, Tertius«, erwiderte er und trat ein wenig näher. Lily erkannte, dass er ein silbernes Tablett in der Hand hielt, wahrscheinlich den Grabbeigaben entnommen. »Ich habe dir etwas zu essen gebracht.«
    Lilys Blick klärte sich, und jetzt konnte sie sich auf das Gesicht konzentrieren.
    »Ist das für mich?«, fragte sie und reckte sich, da sie Rückenschmerzen hatte. Wie lang hatte sie hier gesessen? In diesem sonnenlosen Land war es unmöglich, sein Zeitgefühl zu bewahren. Sie warf einen Blick auf die Laterne – sie war fast erloschen. Deshalb warf sie so viele Schatten.
    »Lass mich das tun«, sagte Tertius, stellte das Tablett hastig ab und zog einen Ölschlauch hervor, um die Laterne neu zu befüllen.
    Lily wartete verwirrt im Dunkeln. »Du bist plötzlich sehr hilfsbereit«, sagte sie und fragte sich, ob dies wohl von Dauer sein würde.
    Tertius lachte schrill und nervös. »Ich will bloß mal etwas Abwechslung haben«, erwiderte er, während er an der Lampe herumhantierte. »Der Dirigent sagte, du wärst hier unten, und da dachte ich, du möchtest vielleicht ein bisschen Gesellschaft.« Lily hörte, dass er mit der Zunderbüchse eine Flamme entfachte, und nun erfüllte wieder Lampenlicht den Raum. Jetzt, da sie deutlicher sehen konnte, bemerkte Lily, dass Tertius keine hellen, sich beißenden Farben mehr trug. Er hatte ein braunes, kittelartiges Gewand an und sein wallendes Haar auf agoranische Weise zu einem Pferdeschwanz gebunden. Während er sich umschaute, entdeckte er einen Teller mit nicht angerührtem Essen auf dem Boden.
    »Du solltest wirklich etwas essen«, tadelte er sie. Lily betrachtete das Essen. Hungrig war sie schon, aber sie wollte nicht von der Harmonika aufstehen. Es gab noch immer so viel zu entdecken. Müde ließ sie ihren Fuß wieder auf das Pedal gleiten, bis die Glocken rotierten, und berührte dann die größte. Ein einzelner Ton erschallte, dazu ein winziger Ausbruch von Flüstern.
    Aufgeregt wirbelte Tertius herum. »Ist es das?«, fragte er von Ehrfurcht ergriffen. »Ist das das Hohelied?«
    Lily nahm den Finger weg, worauf der Ton verklang. »Das dachte ich mir doch«, sagte sie matt lächelnd. »Du bist gar nicht an mir interessiert; du willst bloß das Hohelied hören.«
    Tertius stand da wie ein begossener Pudel; verlegen sackte er in sich zusammen.
    »Kann ich nicht beides wollen?«, sagte er mit einer Stimme, die so schwach und kindlich klang, dass Lily unwillkürlich weich wurde. Sie schwenkte auf dem Hocker herum.
    »Du und Septima, ihr wart tagelang mit mir allein«, sagte sie und beugte sich neugierig vor. »Wenn ich mich recht entsinne, war ich eine Enttäuschung für euch.«
    Tertius richtete sich auf und warf seinen Kopf hochmütig zurück. »Erwähne Septima nicht. Wir sprechen nicht mehr miteinander. Sie hat dich nie wahrgenommen.« Er lächelte scheu. »Ich habe es vorher auch nicht begriffen. Der Dirigent hat mir erzählt, was du hier unten machst, dass du versuchst etwas herauszufinden, was selbst das Orakel nicht weiß. Er hat es als Warnung gemeint, aber ich finde es faszinierend. Einfach faszinierend .« Seine Augen weiteten sich, und trotz ihrer Erschöpfung lächelte Lily.
    »Ihr findet auch Felsbrocken faszinierend«, witzelte sie, ohne zu lachen, und stieg von ihrem Hocker herab. »Ich brauche bloß Antworten, das ist alles. Wenn das Hohelied die Wahrheit für mich bereithält, dann werde ich es benutzen. Ansonsten werde ich es mit etwas anderem versuchen.«
    Tertius riss den Mund auf, so als hätte Lily gerade die geistvollste Rede gehalten, die er je gehört hatte. Er trat näher heran, und Lily bemühte sich, nicht zu lachen.
    »Aber genau das ist es doch«, sagte er mit zunehmender Eindringlichkeit. »Du suchst nach Antworten . Ich habe mein Leben lang nach Fakten und Geheimnissen gesucht, bin aber nie auf eine Antwort

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