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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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von dir ist? Kein Wunder, dass du nicht klar erkennen kannst, wo du stehst. Du hältst alles eine Armeslänge von dir entfernt.« Sie trat vor, worauf Tertius zurückwich. »Wirkliche Wahrheit besteht nicht bloß aus Fakten«, fuhr sie leidenschaftlich fort. »Es ist etwas, wonach ich schon mein ganzes Leben lang suche. Etwas, nach dem ich mich sehnte, als ich weinend beim Buchbinder in der Ecke saß, weil es keinen Ort auf der Welt gab, an den ich gehörte. Ich war eine Waise – ein dummes Mädchen, das sich für etwas Besseres hielt. Eine Gefahr für die Gesellschaft.«
    Sie fauchte geradezu, doch es war ihr egal. Aller Zorn, der sich in ihr angesammelt hatte, brach aus ihr heraus. Sie hatte Tage mit nichts als der Wahrheit verbracht, und selbst wenn sie es gewollt hätte, hätte sie sich jetzt nicht mehr bremsen können. Sie packte Tertius an den Handgelenken und scherte sich nicht darum, als er sich vor Angst und Abscheu ob ihrer Berührung wand. Hinter ihr schnatterte und flüsterte das Hohelied, an Lautstärke zunehmend, und summte in ihrem Kopf.
    »Und ich habe nie aufgegeben, nach der Wahrheit zu suchen«, fuhr Lily fort, während sie ihn noch näher an sich heranzog, sodass ihr Atem sein Gesicht berührte. »Habe nie aufgehört, nach meinen Eltern zu suchen. Nie aufgehört, all diese Lügengebäude in Agora und Giseth einzureißen, bemüht darum, etwas Wahres zu finden. Ich weiß mehr über den Sinn von allem, als ihr Naruvaner jemals wissen werdet, wenn ihr euch nicht endlich dazu entscheidet, eine dauerhafte Regung, ein echtes Gefühl in diese leeren Hüllen hineinzulassen, die ihr eure Seelen nennt.« Tertius zappelte herum, und sein Gesicht wurde noch blasser, als sie ihm die Handgelenke quetschte und sich ihre Nägel in seine Haut gruben. »Denn echte Wahrheit ist etwas, das etwas bedeutet, etwas, das man tief in seinem Bauch und in seinem Herzen spürt. Es ist etwas, das dich begreifen lässt, wer du bist!«
    Lilys Worte hallten überall in der Höhle wider, vom Hohelied noch tausendfach verstärkt.
    Wer du bist … wer du bist … wer … bist … du … wer … bist … du …
    Und plötzlich, in einem Moment absoluter Klarheit, wusste sie, welche Frage das Orakel nicht beantworten konnte.
    Sie lockerte ihren Griff, und Tertius riss sich los, am ganzen Körper zitternd. Doch während er noch zum Ausgang lief, hatte sie ihn bereits vergessen, hatte auch das Essen vergessen, das überall auf dem Boden verstreut lag. Ein Teil von ihr wollte Tertius hinterher und sich vergewissern, dass es ihm gut ging. Ein Teil von ihr wusste, dass es nicht ihre Art war, so grausam zu sein, dass etwas nicht stimmte, überhaupt nicht stimmte. Aber diese nagende Stimme verschwand in einer Million anderer, die allesamt um sie herum flüsterten. Sie sah jetzt alles klar – so klar und hell wie Glas. Er war bloß eine Ablenkung gewesen.
    Sie setzte sich wieder an die Harmonika.
    »Sie weiß nicht, wer sie ist«, jubilierte Lily in das Nichts hinein. »Sie weiß alles auf der Welt, aber nicht, an welchen Ort sie gehört.«
    Sie spreizte die Finger über der Harmonika, am ganzen Körper bebend, und rief nach dem Hohelied.
    »Ich werde es herausfinden, Orakel«, sagte sie aus ganzem Herzen. »Ich werde deinen Namen finden.«
    Und das Geflüster hallte in ihrem Kopf wider.

KAPITEL 11
    Der Abstieg
    »Sind Sie sicher, dass wir an der richtigen Stelle sind?«, wollte Mark von Laud wissen, der neben ihm stand und über Versos Anweisungen nachdachte.
    »Wahrscheinlich schon«, erwiderte er. »Allerdings muss ich zugeben, dass es nicht so aussieht, wie ich es erwartet hatte.«
    Es war ein bescheidenes Haus aus rotem Sandstein nahe der Mitte des Jungfrau-Bezirks. Hoch ehrenwert, beinahe schon langweilig. Mark ging zu der Eichentür und drückte die Klinke herunter. Die Tür öffnete sich, ohne dabei ein unheilvolles Knarren von sich zu geben. Irgendwie beunruhigte das Mark.
    »Nach euch«, sagte er und winkte seine Freunde herbei. Ben und Laud schulterten die mit Proviant und vollen Wasserflaschen gefüllten Rucksäcke, die Theo ihnen besorgt hatte. Sie waren bestens ausgerüstet; ihr Besuch bei den Sozinhos lag nun zwei Wochen zurück. Verso hatte sich dabei sehr eigen verhalten. Er werde sie führen, aber erst wenn er seine eigenen Vorkehrungen getroffen habe. Als an diesem Morgen seine Mitteilung angekommen war, hatte Theo sie mit spürbarer Erleichterung laut vorgelesen. Das Warten war für keinen von ihnen angenehm

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