Das Land des letzten Orakels
gestoßen. Nicht auf eine wirkliche, endgültige Antwort.«
Lily runzelte die Stirn. »Ich versuche nicht, den Sinn des Lebens herauszubekommen«, sagte sie nachdenklich. »Ich suche bloß die Antworten, die für mich wichtig sind. Was mit meinen Freunden geschehen ist, warum alle der Meinung sind, ich wäre so bedeutend …«
»Das weißt du nicht?«, unterbrach Tertius sie.
Lily schaute ihn an. Zuvor war sein starrer Blick auf seltsame Weise eindringlich gewesen. Nun aber lag in der Art, wie er sie ansah, etwas zu Intensives. Er wirkte geradezu fanatisch.
»Nein«, erwiderte Lily und schaute verstohlen nach, ob er zwischen ihr und dem Ausgang stand. »Ich bin bloß ein Mädchen. Ich befolge nicht die Prophezeiungen von irgendwem. Ich bin nicht bedeutend.«
»Doch, bist du wohl!«, sagte Tertius, ein wenig zu laut, als dass es beruhigend hätte wirken können. »Du hast einen solchen Elan, eine solche« – in seinen Augen spiegelte sich Erkennen wider – »Weitsicht. Du weißt, was du willst, und du ziehst los und bekommst es. Du bist kaum länger als einen Monat in Naru und schon dicht davor, alles zu erreichen, was du dir vorgenommen hast!« Er trat näher an sie heran, ein verzücktes Lächeln auf den Lippen. »Du bist perfekt.«
Lily wich zurück, stieß aber gegen die Harmonika hinter sich, die ihr den Weg versperrte. »Jetzt hör mal zu, Tertius«, sagte sie hastig, »das ist wirklich schmeichelhaft, aber du könntest genauso sein wie ich. Du musst dir bloß ein Ziel setzen, etwas, das dir etwas bedeutet.« Sie wies auf den Höhleneingang. »Mach schon! Geh dort hinaus und hole dir, was du willst.«
»Ich weiß, was ich will«, sagte Tertius leise. »Nie hat mir etwas so viel bedeutet, wie dich zu verstehen.«
Lily versuchte auszuweichen, doch Tertius stand nun direkt vor ihr. Seine Augen waren riesig und seltsam, so als würden sie sie aufsaugen.
»Sag mir, wie du es machst!«, verlangte er entschlossener. »Ich muss es wissen!«
Plötzlich und ohne nachzudenken, schob Lily ihn beiseite.
Tertius schrie gellend auf. Er fiel nach hinten, so als hätte Lily ihm in die Brust gestochen.
Lily starrte auf ihre Hand. »Ich habe dich kaum berührt«, sagte sie überrascht. Entgeistert blickte er zu ihr auf.
»Aber du hast … du hast mich wirklich berührt!« Seine Stimme klang kränklich; sein Atem ging kurz und schnell, sein ohnehin farbloses Gesicht war nun leichenblass. »Mit deinen nackten Händen! Das ist … das ist … würg …« Er kroch von ihr weg. »Du schmutziges Ding !«
Lily schaute auf Tertius hinab. Ihr erster Impuls war, sich zu bücken und ihm aufzuhelfen. Doch als sie ihm näher kam, schrie er erneut gellend auf und krabbelte über den Steinboden weg von ihr, wobei er in seiner Verzweiflung das Tablett mit dem Essen mitriss.
Zu ihrer Überraschung spürte Lily nun mit einem Mal, dass sie wütend wurde. Vielleicht war es Erleichterung, vielleicht eine Reaktion auf die Angst, doch sie spürte, wie sich ihre Lippen verzogen und ihr Herz schneller schlug.
»Was denn? Meinst du, ich würde dich mit irgendeiner grauenhaften Krankheit anstecken?«, fragte Lily verächtlich. »Ich dachte, ich wäre ›perfekt‹.«
Tertius erweckte den Eindruck, als wolle er etwas erwidern, doch er würgte und brachte keinen Ton heraus. Er lag zitternd auf dem Boden. Lily stand über ihm, während ihr Zorn anschwoll. Sie spürte, wie dieser seltsame Schauder sie erneut durchfuhr, genau der gleiche, den sie empfand, wenn das Hohelied nahe war. Dieses Mal versuchte sie nicht, ihn wegzudrängen. Stattdessen lachte sie, ein hartes, von Erschöpfung genährtes Lachen.
»Du willst wissen, wie man Weitsicht erlangt?«, fragte sie verächtlich. »Vielleicht musst du damit aufhören, Wissen als das Absolute von allem zu betrachten! Das Orakel kennt jedes Geheimnis auf der Welt, und was bringt ihr das? Sie hängt ganz allein in ihrer Kammer fest.«
Tertius hob den Kopf und brachte nun endlich etwas über seine zitternden Lippen. »Das verstehst du nicht«, sagte er und rappelte sich dabei hoch. »Sie ist rein, befreit von allem Weltlichen. Ich dachte, du wärst wie sie.« Er schüttelte sich vor Abscheu. »Aber du bist bloß ein Tier, abartig, eine … eine fleischliche Kreatur!«
Die letzten Worte spuckte er aus, so als wären sie ein Fluch. Lily lachte erneut, barscher, als sie es beabsichtigt hatte.
»Es ist doch bloß dein Körper!«, rief sie. »Wie kannst du so angewidert von etwas sein, das ein Teil
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