Das Land des letzten Orakels
und Menschen nur so wimmelte. Mark registrierte verwirrte, plappernde Menschen, allesamt mit weißen Haaren und gekleidet in grellbunte Gewänder. Einer von ihnen, ein Mann mit rundlichem Gesicht, war in eine Unterhaltung mit Laud vertieft. Dieser wirkte glücklicher, als Mark ihn je gesehen hatte.
»Ist sie …?«, stammelte Mark, bemüht, wieder zu Atem zu kommen.
Laud nickte heftig. »Sie ist unten in den niedrigeren Höhlen. Der Dirigent hier hat es mir erklärt. Er ist sehr zuvorkommend, aber bieten Sie ihm nicht an, ihm die Hand zu schütteln. Ich dachte schon, er fällt in Ohnmacht.« Laud presste sich die Hände gegen die Schläfen, so als versuche er, seine Gedanken irgendwie zu ordnen. »Offenbar müssen sie jedem, der aus dem stummen Stollen herauskommt, Hilfe anbieten. Sie werden uns direkt zu ihr führen …« Zum ersten Mal überhaupt sah Mark auf Lauds Gesicht ein unverfälschtes Grinsen. »Keine Tricks, keine Fallen, sie werden uns aufgrund irgendeiner uralten Vorschrift helfen. Wenigstens sind diese alten Regeln auf unserer Seite!«
Hinter ihnen schloss nun auch Verso zu ihnen auf, keuchend, aber freudig erregt.
»Nun, mein Junge, wollen Sie den ganzen Tag hier warten?«
Mark wandte sich ruckartig dem korpulenten Mann zu, den Laud Dirigent genannt hatte.
»Können wir direkt los?«, fragte Mark ungeduldig.
Der Dirigent schluckte und drehte mit seiner freien Hand nervös an einem Taktstock, den er sich hinter das Ohr geklemmt hatte. »Ja, aber … sie hat darum gebeten, nicht gestört zu werden …«
»Ich bin fest davon überzeugt, dass sie für uns eine Ausnahme machen wird«, sagte Mark und lachte.
Der Dirigent verneigte sich und gab seinen Versuch auf zu begreifen, was hier vor sich ging.
»Folgt mir«, forderte er sie auf.
Während Mark dem Dirigenten folgte, nahm er die Wunder von Naru gar nicht richtig wahr. Er, Laud, Ben und Verso wurden durch prächtige Höhlen geführt, vorbei an hoch aufragenden Kristallsäulen und unergründlichen Tiefen. Er blieb nicht einmal stehen, um die Menschen mit ihren großen, dunklen Augen und ihrem neugierigen Geplapper anzuschauen. Als er Benedictas Blick erhaschte, sah er in ihren Augen das, was auch er empfand – Erleichterung. Außerordentliche, glückselige Erleichterung. Letzten Endes war es verblüffend einfach gewesen, Lily aufzuspüren. Es hatte nicht monatelanger gefährlicher Reisen bedurft, und sie hatten sich auch nicht mit dem Orden der Verlorenen herumschlagen müssen. Und nun, endlich, konnte er all das abschütteln, was er befürchtet hatte. Sie war nicht tot. Sie war nicht allein oder verrückt oder von Feinden gefangen genommen worden. Sie litt nicht, weil sie ihm gefolgt war. Es war nicht seine Schuld.
Der Dirigent führte sie zu einem kleinen dunklen Stollen, der von Kristallen sporadisch beleuchtet wurde. Mark erspähte steil abfallende Steinstufen.
»Sie ist hier unten«, sagte der Dirigent beklommen. »Aber sie lauscht dem Hohelied. Vielleicht sollten Sie lieber …«
Mark wartete gar nicht erst ab, bis er den Satz vollendet hatte. Alle vier polterten sie die Stufen hinunter.
Ben und Laud eilten voran. In ihrem Blick lag Entschlossenheit. Mark hörte, wie Verso sich hinter ihm die Stufen hinabmühte. Als er sich trotz aller Ungeduld umdrehte und sah, wie Verso sich an der Wand abstützte, fragte er den alten Mann, ob er Hilfe benötige.
»Nein, nein«, schnaufte er. »Gehen Sie nur. Ich hole Sie dann ein.«
Mark nickte und schoss, von seiner Sorge befreit, die Stufen hinab, vorbei an Laud und Ben. Vor sich vernahm Mark einen seltsamen Klang. Es war eine eindringliche, fließende Musik. Und überall um sie herum waren noch andere Geräusche zu vernehmen, kaum hörbar. Es klang wie tausendfaches Flüstern, als ob alle auf einmal sprächen. Nichtsdestotrotz drängten sie weiter voran, tiefer und tiefer hinab, während der Klang immer lauter wurde, bis er ihnen in den Ohren dröhnte.
Schließlich erreichten sie den Eingang einer weiteren Höhle. Und nun sahen sie sie.
Sie saß mit dem Rücken zu ihnen an einem merkwürdigen, aus poliertem schwarzem Holz gefertigten Cembalo. Ihre Hände bewegten sich hektisch über eine Reihe von rotierenden Glaskegeln und produzierten wilde Musik. Sie hatte den Kopf zurückgeworfen und war am ganzen Körper angespannt, bewegte sich hin und her im Fluss des Geflüsters, das durch den Raum waberte. Sie war so vollkommen darin vertieft, dass sie selbst Teil des Klangs zu sein
Weitere Kostenlose Bücher