Das Land des letzten Orakels
absolut grauenhaften Zustand zurückgelassen.« Der Direktor hob die Hand und zog vorsichtig einen seiner Handschuhe aus. In dem matten Licht keuchte Lily laut auf. Die Narben an seinem Handgelenk waren wulstig und mussten schmerzhaft sein; sie konnte immer noch die Ränder primitiv ausgeführter Stiche sehen. Der Direktor zuckte zusammen. »Aber ich habe überlebt und ließ mich nicht besiegen. Ich habe so lange am Leben festgehalten, bis Miss Verity mich gefunden hat.« Er zog den Handschuh wieder an und lächelte dabei. »Liebe Rita. Ich hatte allerdings wirklich Glück, dass sie noch nicht auf ihr Zimmer gegangen war, sondern vorhatte, sich mit Mr Marks Vater zu treffen, und an meinem Büro vorbeischleichen musste, um durch die geheimen Stollen zu gehen.« Er ließ seine Hand auf der Gedenktafel ruhen. »Sie hat mich gerade noch rechtzeitig gefunden und klugerweise nicht Alarm geschlagen. Zweifellos hatte Snutworth dafür gesorgt, dass an diesem Tag Wachen im Direktorium patrouillierten, die ihm gegenüber loyal waren …« Er runzelte die Stirn. »Sie werden verstehen, dass ich kaum etwas von dem in Erinnerung habe, was danach geschah. Ich war sehr schwach. Aber ich konnte ihr Anweisungen geben. Ich hatte … für einen solchen Fall Vorsorge getroffen.«
»Sie hatten geahnt, dass Snutworth Sie attackieren würde?«, fragte Mark.
Der Direktor schüttelte den Kopf. »Nicht er im Besonderen. Rückblickend betrachtet hätte ich allerdings erkennen müssen, dass er der Einzige war, der die dafür nötige Intelligenz aufbrachte. Aber ich wusste, dass mächtige Männer selten eines natürlichen Todes sterben. Ich wusste, dass ich eines Tages womöglich meinen eigenen Rücktritt vortäuschen müsste, um so von der Oberfläche zu verschwinden, dass selbst das Direktorium mit all seinen Ressourcen mich nicht würde finden können. Um das zu bewerkstelligen, musste ich mich nicht bloß verstecken. Ich musste ein anderer Mensch werden.«
Langsam langte er in seine Tasche und holte einen kleinen ledernen Zugbeutel hervor. Aus diesem schüttete er farbige Lutschbonbons heraus.
»Miss Verity befolgte meine schriftlichen Anweisungen buchstabengetreu. Um meine Verletzungen behandeln zu lassen, brachte sie mich zu einem Arzt, ohne zu verraten, wer ich war. Sie beschaffte mir einen falschen Namen und einen Siegelring. Dann brachte sie mich zum Erinnerungsextraktor und ließ mich dort zurück, damit sie nie würde verraten können, wohin es mich verschlagen hatte. Ich wusste, wenn Snutworth mich fand, würde er meine letzten Geheimnisse auf diese Weise extrahieren können, und deshalb entschied ich mich dazu, mich zu meinen eigenen Bedingungen zu verlieren.« Er seufzte. »Der Extraktor hat mein ganzes Ich entfernt und jede Erinnerungsperle in eine absolut harmlose Form verpackt.«
»Die Bonbons …«, stieß Mark leise hervor.
Der Direktor nickte. »Ich hätte sie alle vor unserer Reise genommen, aber es gab da einige Erinnerungen, die ich erst aufzurufen wagte, als wir sicher aus Agora herausgekommen waren. Selbst jetzt gibt es noch einige wenige Details, die ich mir vorenthalten habe.« Er schüttete die Bonbons zurück in den Beutel. »Mein Techniker für die Erinnerungsextraktion war ein wahrer Fachmann. Er hat die Bonbons sogar mit Ziffern versehen und mir den Code gegeben. Als ich erwachte, wusste ich so, welches ich als erstes nehmen musste.« Mit einem wehmütigen Blick wog der Direktor den Beutel mit den Bonbons auf seiner Handfläche. »Ich muss zugeben, es war eine Erleichterung, eine Weile lang als Verso zu leben. Ein einfaches Leben zu führen. Meine Jahre als Direktor wieder in meine Erinnerung aufzunehmen war hingegen eine … unangenehme Erfahrung. Es gab viele Tage, die ich lieber vergessen würde.« Er schüttelte den Kopf. »Als der Vorgang abgeschlossen war, versprach mir der Techniker, sogar seine eigene Erinnerung meiner Anwesenheit zu entfernen und zu vernichten. Ich blieb in dem Glauben zurück, ein alter Diener zu sein, verwirrt vom fortgeschrittenen Alter. Keine Menschenseele in Agora wusste, dass Verso ein besonderer Mensch war. Meine einzigen Hinweise waren in diesem Beutel ›Bonbons‹ versiegelt, dazu eine Nachricht, in meiner eigenen Handschrift, die mich warnte, ich hätte eine größere Bestimmung, und dieser Beutel solle erst geöffnet werden, wenn ich das Zeichen bekommen hätte, wieder ich selbst zu werden.« Er hielt einen Moment inne. »Zum Glück war ich auch so klug gewesen, mir
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