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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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selbst ein gutes Zeugnis für die Sozinhos auszustellen. Schließlich brauchte ich eine Arbeitsstelle.«
    »Warum die beiden?«, fragte Ben, nachdem sie ihre Stimme wiedergefunden hatte.
    Der Direktor lächelte. »Sie bewachten den Abstieg des Letzten. Zu den wenigen Informationen, die zu erinnern ich mir erlaubt hatte, gehörte mein Wissen über die Sozinhos. Ich wusste, dass ich den Abstieg eines Tages selbst würde machen müssen.« Er runzelte die Stirn. »Als Verso verstand ich natürlich die Bedeutung dieser Erinnerungen nicht vollständig, doch die Nachricht, die ich mir hinterlassen hatte, war deutlich – ich musste in ihre Dienste treten. Das war natürlich riskant, denn sie hatten nicht wirklich einen Grund, mich in ihre Dienste zu stellen. Zuerst versuchte ich es mit Schmeichelei, gab vor, ein alter Bibliothekar zu sein, der von ihrer Familiengeschichte fasziniert war. Damit hatte ich nur wenig Erfolg. Doch als ich erklärte, ich würde von einem grausamen ehemaligen Herrn verfolgt und müsste mich vor den Augen der Öffentlichkeit verbergen …« Der Direktor begegnete Lilys Blick. »Zum Glück für mich sind die beiden mildtätige Menschen. Ich glaube, das habe ich Ihnen zu verdanken. Die beiden haben sich sogar bereit erklärt, aller Welt gegenüber so zu tun, als befände ich mich schon seit Jahren in ihren Diensten.«
    Mark wirkte nun noch verdutzter. »Aber was ist mit der Seite aus dem alten Buch? Wegen der sich Verity so in Schwierigkeiten begeben hat?«
    Nachdenklich rieb sich der Direktor das Kinn. »Ach ja, die Seite. Mein Rettungsanker.« Er zog die Seite aus seiner Tasche und strich sie glatt. »Ich hatte Verity erzählt, diese Seite werde den Weg zu mir weisen, sollte dazu die Notwendigkeit bestehen. Ich muss zugeben, sie hat sie früher benutzt, als ich erwartet hatte, doch vielleicht war das auch gut so.« Er hielt sie Mark entgegen. »Was sehen Sie hier?«
    Mark starrte sie zornig an. »Das ist bloß ein Rezept«, sagte er. »Sie müssen sie gegen das Licht halten.«
    Der Direktor lächelte erneut. »Tatsächlich, Mr Mark? Haben Sie erwartet, dass ich meine wahre Bedeutung so einfach verstecke? Diese Nachricht führte zu meinem Versteck, hat jedoch Verso nicht das Zeichen gegeben, dass es Zeit war, sich wieder in mich zu verwandeln. Ich brauchte eine Nachricht, die nur ich verstehen würde.«
    Mark schaute sich erneut die Buchseite an, und nun ging ihm ein Licht auf. »Es ist ein Rezept für Bonbons«, sagte er leise.
    Der Direktor nickte und steckte die Seite wieder in die Tasche. »Trotz seines kurzen Lebens wusste Verso, dass diese Bonbons wichtig waren. Als also diese uralte Seite auftauchte, von Fremden überbracht …« Er seufzte. »Er wusste … das heißt, ich wusste … dass meine letzte Gnadenfrist abgelaufen war.« Er stieß einen noch tieferen Seufzer aus und stützte sich an der Wand ab. »Aber mir bleibt nur noch wenig Zeit. Mein Gesundheitszustand ist alles andere als stabil, und ich muss meinen Atem für die Beichte aufheben. Ist das Orakel bereit, mich zu empfangen?«
    Bei seinen letzten Worten wandte er sich an den Dirigenten, der am Eingang der Kammer aufgetaucht war.
    »Sie wird bereits wissen, dass Sie hier sind«, sagte der Dirigent feierlich. »Kommen Ihre Freunde mit?«
    »Nein«, erwiderte der Direktor. »Diese Beichte ist nur für das Orakel bestimmt.« Geistesabwesend wischte er mit seiner behandschuhten Hand über die Messingtafel. »Das Direktorium und die Kathedrale der Verlorenen sind auf dem gleichen schwarzen Felsgestein erbaut, das wir auch hier in den Stollen finden. Es lässt alle Echos verstummen – sogar das Hohelied. Ich glaube, die Gründerväter wollten nicht, dass ihre Gedanken mitgehört werden konnten. Aber für diese Abgeschlossenheit bezahlen wir einen Preis – am Ende müssen alle Geheimnisse offenbart werden. Jeder Direktor beendet seine Ära vor dem Resonanzthron, wo er seine letzte Beichte ablegt.« Er machte Anstalten zu gehen.
    »Sie bleiben schön hier.«
    Der Direktor drehte sich um. Lily begriff, dass sie es war, die gesprochen hatte. Die Worte waren ihr über die Lippen gekommen, bevor sie es hatte verhindern können. Doch nach allem, was sie durchgemacht hatte, nach all den Stunden, die sie mit dem Hohelied verbracht hatte, nach irgendetwas suchend, das ihr helfen könnte, würde sie den kenntnisreichsten Menschen, dem sie je begegnet war, nicht einfach gehen lassen.
    »Und warum, wenn ich fragen darf?«, erwiderte der Direktor.

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