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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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habe dir Wahrheit mitgebracht, Orakel«, sagte Lily mit dumpfer, schwerer Stimme. »Ich habe dir deinen Namen mitgebracht.«
    Lilys Worte hallten weit lauter wider, als sie es hätten tun sollen. Ihre Freunde rappelten sich wieder auf und hielten sich die Ohren zu, während der Klang der Worte so laut wie Trompetenstöße wurde.
    Das Orakel beugte sich so weit vor, dass ihr Gesicht nur einen halben Meter vor Lily schwebte. Ihre behandschuhten Hände umklammerten die Lehnen ihres Throns.
    »Sag es mir«, forderte das Orakel, in deren Stimme nun unverkennbar ein Anflug von Anspannung mitschwang.
    Lily starrte das maskierte Gesicht an und formte endlich die Worte, die der Direktor ihr eingeflüstert hatte.
    »Dein Name ist Helen d’Annain«, sagte Lily. »Und du bist meine Mutter.«
    Es herrschte Totenstille. Dann hörte Lily, wie Mark und Ben hinter ihr überrascht etwas zueinander sagten. Laud nahm ihren Arm. Und sie wollte ihn anschauen; sie war überzeugt davon, dass sein Gesicht voller Mitgefühl sein würde. Aber sie konnte sich nicht rühren. Sie konnte einzig und allein die Frau auf dem Thron anstarren, um irgendeine Reaktion zu sehen.
    Um sich herum spürte Lily eine Vibration in der Luft, und ein leises Rumpeln erklang aus der Höhle, so als hätte eine Fülle von fernem Flüstern alles in Unruhe versetzt. Doch die Gestalt des Orakels ließ nichts davon erkennen; die Kristallmaske blieb unbewegt. Als ihre Stimme wieder ertönte, klang sie fest und ohne jedes Gefühl.
    »Ja, das ist wahr«, sagte sie.
    Lilys Augen brannten. Sie wollte sich an das Orakel schmiegen oder sie schlagen, wollte sie um Liebe anflehen oder dafür verfluchen, dass sie sich nicht einmal daran erinnerte, eine Tochter zu haben. Doch als sie den Mund öffnete, war ihre Stimme ruhig und kühl.
    »Mein Vater hat gesagt, du wärst tot«, erklärte sie matt. »Warum hat er gelogen?«
    Die Antwort des Orakels ließ nicht auf sich warten. »Er hat nicht gelogen, Lily. Hör zu.«
    Überall um sie herum in der Höhle wurden die Stimmen des Hohelieds lauter. Mit einem Mal erhob sich aus dem Gewirr eine Stimme, deutlicher als die anderen, aber doch fern – ein Echo von weit weg. Lily erkannte diese Stimme. Es war ihre eigene, mit der sie den Brief, den ihr Vater ihr hinterlassen hatte, als er im Sterben lag, laut vorlas.
    Deine Mutter hätte das wahrscheinlich gebilligt. Aber ich habe sie schon vor langer Zeit begraben.
    Beinahe hätte Lily gelacht, aber das Lachen blieb ihr im Halse stecken.
    »Das hat er also gemeint«, sagte sie. »Er meinte wirklich ›begraben‹. Er hat dich unter die Erde gebracht.«
    »Helen d’Annain wurde kurz nach deiner Geburt Orakel«, verkündete das Orakel, ihren eigenen Namen so aussprechend, als handele es sich um eine ferne Verwandte. »Ihr Gatte war dagegen, aber sie wollte diesen Weg gehen. Es war eine große Ehre. Doch sie wurde ihrer Erinnerungen beraubt. Alle Orakel müssen ohne eigenes Ich leben. Denn das Ich bringt nur Gefühlsregung und Disharmonie mit sich und zerstört das Gleichgewicht des Resonanzthrons.«
    Angewidert wandte sich Lily vom Orakel ab.
    »Lily …«, sagte Laud sanft, doch Lily war nicht in der Stimmung, ihm zuzuhören. Sie schaute erneut das Orakel an. Nach außen hin ließ sie sich nichts anmerken. Doch im Innern spürte sie, dass das Flüstern des Hohelieds lauter wurde.
    »Erinnerst du dich gar nicht an mich?«, fragte Lily, während sie einen Schmerz in der Brust empfand.
    Das Orakel zögerte. Erneut schien es, als bebe der Raum ein wenig; das Licht in der Kristallspitze über ihnen pulsierte und flackerte, als wäre es aufgewühlt. Diese Kammer spiegelte tatsächlich den Gefühlszustand des Orakels wider. Die Echos reagierten auf die kleinste Störung.
    »Ich erinnere mich an alle Dinge«, erwiderte das Orakel. »Fakten aus hunderttausend Leben. Ich kenne jedes einzelne.«
    »Aber du empfindest nichts dabei, nicht wahr?«, entgegnete Lily und wünschte sich regelrecht, damit eine weitere Störung hervorzurufen, eine weitere Welle der Vibration in der Luft. Irgendetwas, das bewies, dass diese Frau, die ihre Mutter sein sollte, etwas empfand.
    »Das kann ich nicht. In meinen Augen ist alle Wahrheit gleich«, erwiderte das Orakel. In ihrer Stimme schwang ein winziges Beben mit.
    Lily spürte, wie der Schmerz sie überkam – es war ein schrecklicher, nagender Schmerz. »Was bringt das Wissen von einer Million Leben, wenn du nicht einmal ein einziges Leben empfinden kannst?«, fragte

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