Das Land des letzten Orakels
immer, dass du zurückkommen würdest, Lily. Ich will, dass du das weißt. Du hattest es versprochen. Ich wusste, dass du zurückkommen würdest …«
Verwirrt nahm Lily seine Hand. Laud schien sich mit etwas herumzuquälen, doch als er den Mund öffnete, um einen weiteren Versuch zu starten, ließ eine Stimme sie alle innehalten.
»Es ist vollbracht.«
Die Stimme klang müde, alt und erleichtert. Sie kam von der anderen Seite des Vorhangs, und als sie sich ihr zuwandten, sah Lily, wie eine vernarbte Hand den Vorhang beiseiteschob. Die Gestalt, die zum Vorschein kam, war fast nicht wiederzuerkennen. Der Mann sah zwar ein bisschen so aus wie der Direktor, doch wie ein Direktor, dessen ganzer Stolz und Energie dahingeschwunden waren. Er ging gekrümmt, keuchte und schaute sie aus wässrigen Augen an.
»Nun, das war mit Sicherheit eine intensive Erfahrung«, sagte er und lachte schwach. »Wenn das Orakel einem die Beichte abnimmt, dann lässt man nichts aus. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass die Resonanz in der Kammer so mächtig ist.«
Benedicta eilte vor, um dem alten Mann ihren Arm als Stütze anzubieten. Sanft, aber bestimmt schob er sie beiseite.
»Ich verdiene Ihre Hilfe nicht, Miss Benedicta, und ich will sie auch nicht. Heben Sie sich Ihre noble Geste für diejenigen auf, die es eher verdient haben.« Er blickte zu Laud auf, der auf die Wiederkehr des Direktors überraschend wütend reagierte. »Und es gibt keinen Grund, mich zu verfluchen, Mr Laudate. Ich bin jetzt ein Niemand. Sparen Sie sich Ihre Energie, Sie werden noch viele Gelegenheiten bekommen, sie einzusetzen.« Er wandte sich Mark zu. »Leiten Sie sie gut, Protagonist. Es gibt im Moment keinen wahren Direktor, und der Tag des Urteils steht Ihnen dicht bevor.« Er lachte matt. »Das kann natürlich alles Unsinn sein. Ich bin mir wirklich nicht mehr sicher. Mein nahendes Ende scheint alles zu relativieren.«
»Was werden Sie jetzt tun?«, fragte Mark vorsichtig.
Der Direktor seufzte. »Ich werde den Dirigenten aufsuchen. Er wird wissen, welche Vorkehrungen zu treffen sind. Ich erwarte nicht, dass einer von Ihnen mich begleitet.« Er richtete sich auf, um seine Würde wiederzugewinnen. »Also, da wäre noch ein letztes Versprechen einzulösen.«
Der Direktor trat dicht vor Lily und stützte sich dabei auf ihre Schulter. Mit Bedacht ließ er sich dann die letzte Erinnerungsperle in den Mund gleiten. Er zögerte einen Moment.
»Miss Lily«, sagte er schließlich, »nicht weit von hier führt ein Weg zurück nach Agora. Sie könnten ihn nehmen; kehren Sie zurück, ohne weitere Fragen zu stellen. Sie wissen bereits so viel, und eines kann ich Ihnen versprechen – die Wahrheit wird Sie nicht glücklich machen.«
Lily ergriff seine Hand. Tief in ihr erhob sich erneut das Geflüster. »Ich muss es einfach wissen«, sagte sie aus tiefstem Herzen.
Der Direktor seufzte. »Dann tut es mir leid, Miss Lilith. Ich hoffe, Sie werden mir vergeben.«
Er beugte sich zu ihr vor und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Die Welt blieb stehen.
Der Direktor zog den Kopf zurück und schaute ihr in die Augen. Sprachlos erwiderte Lily seinen Blick.
»Es ist die Wahrheit«, sagte er. »Gehen Sie, und sagen Sie es ihr.«
Benommen ging Lily los. Hinter sich hörte sie, wie der alte Mann davonschlurfte, wieder hinunter in das Mausoleum. Sie spürte, dass Laud sie an einem Arm, Mark an dem anderen nahm. Sie sah Ben vor sich, die mit wachsender Besorgnis fragte, was der Direktor ihr zugeflüstert habe. Doch sie hatte das Gefühl, alle wären meilenweit von ihr entfernt. Es war, als höre sie wieder das Hohelied: Sie hörte einzig und allein die Wahrheit, die in ihrem Kopf widerhallte. Als gäbe es außer ihr niemanden auf der Welt, entzog sie sich dem Griff der beiden, riss den Vorhang beiseite und trat in die Kammer des Orakels.
Alles in ihr schien erstarrt – ihr Verstand, ihre Stimme, ihre Sinne. Mark, Laud und Ben schwirrten um sie herum und äußerten sich lautstark über die Höhle des Orakels. Lily spürte, dass die anderen in Ehrfurcht erstarrten, als sie den Felssteg, der über die Stalagmiten führte, entlanggingen, und blickte hinauf zu dem riesigen, über dem Resonanzthron hängenden Kristall. Sie sah, wie ihre Freunde durch die Vibrationen auf die Knie fielen, doch irgendwie vermochte die Resonanz sie selbst diesmal nicht zu berühren.
Dann stand sie vor dem Thron. Das Orakel schaute hinter ihrer Kristallmaske auf sie herab, teilnahmslos wie immer.
»Ich
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