Das Land des letzten Orakels
»Ich bin mir sicher, dass Sie mich aufhalten könnten, wenn Sie es wollten. Aber ich sehe nicht, was Sie damit erreichen würden …«
»Hören Sie auf!«, schrie Lily. »Hören Sie auf damit, so zu tun, als wäre alles nur ein Spiel!« Sie trat auf den alten Mann zu. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie hörte, wie hinter ihr das Hohelied zu summen begann. »Ich habe Ihnen vertraut«, sagte sie mit wachsendem Zorn. »Mark und ich sind nach Giseth gegangen, weil ich Ihnen geglaubt habe, als Sie sagten, wir seien die Richter, seien bedeutend. Seitdem stand ich an der Schwelle des Todes, war in einem Dorf voller Freunde, die sich in mordlüsterne Wahnsinnige verwandelt haben, habe eine Kreatur abgewehrt, die sich von meinen schlimmsten Alpträumen nährte, habe meinen Vater sterben sehen und war gezwungen, hier in diesem Loch zu hausen, das einen in den Wahnsinn treibt. Und wissen Sie, warum? Weil ich Antworten wollte! Ich wollte erfahren, wie die Geschichte zu Ende geht, die Sie mir auch direkt hätten erzählen können! Deswegen sind Sie mir etwas schuldig, Direktor. Sie schulden mir ein paar Antworten.«
Lily merkte, dass ihr Atem stoßweise ging. Der alte Mann schaute sie mit sonderbarem Respekt an.
»Ich muss doch sehr bitten, Miss Lilith. Ich bin nicht so nützlich, wie Sie glauben«, entgegnete er vollkommen gelassen. »Das Orakel wird Ihnen alles sagen, was Sie wissen müssen.« Er lächelte. »Sobald Sie ihr ihren Namen mitgeteilt haben, natürlich.«
Eine ganze Weile zog Lily es ernsthaft in Betracht, ihm ins Gesicht zu schlagen. »Ich kenne ihren Namen nicht«, fauchte sie.
Der Direktor lächelte. Dann hielt er etwas zwischen den Fingerspitzen hoch. Es war eine winzige Erinnerungsperle, deren Reste zuckriger Ummantelung bereits abbröckelten.
»Ich weiß, Lily. Aber ich kannte ihn.«
Mittlerweile befand sich der Direktor schon fast eine Stunde im Thronsaal des Orakels, doch für Lily war die Zeit rasch verflogen. Unmittelbar nachdem er sie am Eingang zurückgelassen und hinter sich den Samtvorhang zugezogen hatte, hatte die Freude über das Wiedersehen mit ihren Freunden sie erneut ergriffen und den jähen und überraschenden Zorn verdrängt. Seit diesem Moment hatten sie nicht mehr aufgehört zu reden.
Bei einigen Geschichten fiel es ihr schwer, sie zu glauben – sich Cherubina als revolutionäre Galionsfigur auszumalen kostete einige Mühe. Bei anderen war es kinderleicht. Leider fiel es ihr nicht schwer, sich vorzustellen, dass Snutworth Direktor geworden war. Sie war ihm nur wenige Male begegnet, aber das hatte genügt. Er stand für alles an Agora, was sie verabscheute. Es war nur allzu wahrscheinlich, dass er alles erreichen würde, was er anstrebte.
Bens aufgedrehte Stimme wieder zu hören war überwältigend. Oder sich mit Mark über die Passagen zu streiten, bei denen er die Geschichten ihrer gemeinsamen Zeit zu sehr ausgeschmückt hatte. Und Lauds Bemerkungen, die so scharf, aber auch so liebevoll waren. Dabei achtete sie kaum auf das, was sie sagten; allein ihren Stimmen zu lauschen war schon genug und bezauberte sie.
Natürlich hatten sie sie dazu genötigt, auch von ihren Erlebnissen zu erzählen. Doch sie stellte fest, dass sie kaum imstande war, sie zu ordnen. Sie hatte so viele Geheimnisse im Hohelied gehört, so viele Leben gelebt, dass ihre eigene Geschichte im Vergleich dazu unbedeutend wirkte. Als sie auf den Tod ihres Vaters zu sprechen kam, stellte sie jedoch fest, dass die Erinnerung so real war, so anders als das Geflüster, dass ihr erneut Tränen in die Augen traten. Wieder nahmen die drei sie in den Arm, und sie fühlte sich sicher, so als erwache sie endlich nach einer sehr schlimmen Nacht.
»Wie lange … wie lange ist es her?«, fragte sie schließlich. »Hier unten ist es schwierig, sein Zeitgefühl nicht zu verlieren.«
»Zwei Monate sind vergangen, seit wir beide uns das letzte Mal gesehen haben, glaube ich …«, sagte Mark und schüttelte den Kopf. »Aber …«
»Für uns war es länger«, sagte Laud eindringlich. »Viel länger.«
Lily schaute zu Laud. Ihr wurde bewusst, dass er sie schon seit ihrer Ankunft anstarrte. Sogar während ihres Wortgefechts mit dem Direktor hatte er den Blick kaum von ihr gelöst. Unsicher ließ sie den Kopf sinken.
»Du brauchst mich nicht die ganze Zeit anzustarren, Laud. Ich gehe nirgendwohin.«
Schnell wandte Laud den Blick ab. »Es tut mir leid, es ist bloß …« Er verstummte. »Ich … wir … Ich wusste
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