Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02
versuchen.
»Ich werde für Euch ins Hexenland gehen, wenn Ihr sagt, dass die Prinzessin nicht Eure Frau ist und dass sie zurück ins Königinnenreich gehen muss.«
Diesmal verstand er es. Ich machte weiter, wie ein Mann, der in Stromschnellen geraten ist und dem Fluss nicht entkommen kann, bis er sie überwunden hat.
»Die Königin ist nur ein Kind, nicht eine Frau für einen wie Euch. Und sie hat keine Disziplin. Euer Volk wird sie nicht mögen. Sie kann abgelegt werden. Und ich sage das aus einem wichtigen Grund: Ich hatte letzte Nacht nicht recht. Ich habe einen Fehler gemacht. Prinzessin Stephanies Träume könnten von einer anderen Hexe kommen.«
Mit einem Schritt durchquerte Tarek das Zelt, packte mich an der Vorderseites meines Hemdes und hob mich beinahe von den Beinen. Ich konnte sowohl seine Stärke als auch seinen Zorn spüren wie Blitze, die aus seinem Körper in meinen fuhren. Sein Geruch drang in meine Nase: männlicher Schweiß und Tierfell und Zorn. Meine Hand, die immer noch den weißen Stein hielt, schlug hilflos um sich, aber ein primitiver Teil meines Hirns hielt mich davon ab, auch nur zu versuchen, einen Gegenangriff zu machen.
»Antek, du lügst.«
»Ich lüge nicht!«, keuchte ich. »Mein Lord…«
Er ließ mich fallen, und ich schwankte, konnte mich kaum auf den Beinen halten. Worte strömten so rasch aus mir hervor, dass ich kaum wusste, was ich sagte. »Habt Ihr nie einen Fehler in Eurer Kunst gemacht? Im Krieg? Alle machen manchmal Fehler. Ich habe Euch letzte Nacht gesagt, dass die Prinzessin kein…« Was war das Wort für »Opfer«? Ich konnte die Worte nicht finden, die ich brauchte. »Dass keine Hexe Lady Margaret getötet hat. Das ist wahr. Aber die Alpträume der Königin– ich habe Euch gesagt, dass nur ein Antek Träume als Pass ins Hexenland benutzen kann. Ich habe es Euch gesagt! Letzte Nacht habe ich geträumt. Nun weiß ich mehr als zuvor. Königin Stephanie wird von einer Hexe angegriffen, und ich bin es nicht! Aber ihr ist nichts vorzuwerfen, mein Lord. Die Hexe versucht, Euch durch sie anzugreifen, wie ein Krieger ein schwaches Land angreifen könnte, um ein starkes zu erobern…«
Ich hatte einen Fehler gemacht.
Ich erkannte es an Tareks Gesicht. Er war kein Soldat, der die Schwachen benutzte, um die Starken anzugreifen; das wäre unter seiner Würde gewesen. Genauso wie Folter. Hier herrschte ein fremder Ehrenkodex, und ich spürte den Augenblick, in dem ich diese Ehre beleidigt hatte, ohne es wiedergutmachen zu können, wie einen Stich im Bauch. Ich war gescheitert.
Tarek zog sein Messer.
Ich stieß hervor: »Wartet! Ich werde jetzt ins Hexenland gehen!«
Das brachte mir eine Sekunde des Zögerns ein. Ich biss mir mit den Zähnen hart auf die Zunge und betrat den Pfad der Seelen, ehe Tarek mich dauerhaft hinüberschicken konnte.
Dunkelheit …
Mein Vater hatte gesagt, ich könnte den Pfad der Seelen betreten, vorausgesetzt, ich brachte nichts mit mir zurück.
Kälte …
Selbst Alysse hatte zugegeben, dass der Pfad, den ein Hisaf betrat, die Bresche in der Barriere nicht vergrößern würde.
Erstickender Dreck in meinem Mund …
Die Bresche in der Barriere, die gerissenen Fäden im Netz…
Würmer in meinen Augen …
Dann stand ich im Land der Toten, und eine Gestalt stürmte aus dem Nebel auf mich zu. Nicht meine Schwester, kein Hisaf, sondern eine plumpe Gestalt, deren Gesicht vor Angst und Empörung verzerrt war…
Stephanies Amme.
Sie rammte mich mit voller Geschwindigkeit, warf mich beinahe um, noch während ich darum kämpfte zu verstehen, was sich abgespielt hatte. Sie war tot, aber noch nicht in die stille und geistlose Ruhe der Toten eingetreten. Daher musste sie erst vor wenigen Augenblicken gestorben sein.
»Roger! Wo bin ich?«
Ein Wort machte sich in meinem Mund breit: Hexenland. Das hätte ich ihr sagen können, und sie hätte mir vielleicht geglaubt, wie mir einst die Soldaten der Blauen geglaubt hatten. Dann hätte die Amme hier wach bleiben können, und ich hätte mehr Zeit gehabt, endlose Zeit, um ihr Fragen zu stellen. Aber ich konnte ihr das nicht antun. Sie würde allein sein und unter den stillen Toten leben. Das war ein zu schreckliches Schicksal, und auch wenn ich es zuvor schon verhängt hatte, hatte ich damals nicht gewusst, was im Land der Toten umging. Also achtete ich nicht auf die Frage der Amme und warf ihr, mit der Plötzlichkeit und Schärfe eines Schwertes, meine eigene Frage hin.
»Was ist mit Euch geschehen?
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