Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02
lautes, knallendes Geräusch, wie ein Blitz, der in den Boden fuhr, und die zehn Toten verschwanden zusammen mit dem Mahlstrom.
Weg. Einfach weg.
Unwillkürlich stolperte ich vorwärts. Der allgegenwärtige Nebel über der Landschaft war ebenfalls verschwunden. Ich konnte wieder meilenweit sehen, über die Berge und Täler des Landes der Toten. Aber es gab nichts zu sehen, wo eben noch die zehn Toten in Erwartung der Ewigkeit gesessen hatten. Das Gras war nicht einmal geschwärzt. Es war, als wäre nichts und niemand je da gewesen.
Was war geschehen? Wie hatten die Beobachter aus dem Seelenrankenmoor die festen Körper der Toten mitnehmen können– und wohin? Gab es die Männer und Frauen aus diesem Kreis überhaupt noch? Oder war ihre Macht ins Seelenrankenmoor geleitet worden, um dazu zu dienen, den Leuten vom Moor ein ewiges Leben zu geben?
Ein Spalt in der Barriere. Macht, die über ein zerrissenes Netz strömte.
Meine Sicht verschwamm vor Furcht.
Es war auch Furcht, die mich schließlich antrieb. Ich raste zu der nächsten Toten, die es noch gab, einer alten Frau, die einen Blasebalg in der Hand hatte. Ich fragte nicht danach, weshalb sie einen Blasebalg gehalten hatte, als sie gestorben war, ich riss ihr das Ding einfach aus der Hand. Falls mein Diebstahl genug war, um sie aufzuwecken, blieb ich nicht lange genug, um es zu sehen. Der Blasebalg hatte eine geschnitzte Holzspitze. Ich trieb sie mir in den Oberschenkel und kehrte vom Pfad der Seelen zurück.
Tarek stand wieder mit einem seiner Hauptleute da. »…ist tot«, sagte der Hauptmann. Die Amme. Der Hauptmann hatte mir den Rücken zugewandt, und ich konnte Tareks Gesicht über der linken Schulter des Mannes sehen.
Die Augen des Junghäuptlings waren zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, groß vor Angst. Ich setzte mich hin, spürte den Schmerz in meinem Oberschenkel, das Blut im Mund, wo ich mir auf die Zunge gebissen hatte. Vor allem aber spürte ich den Blasebalg, dessen plötzliches Erscheinen in meiner reglosen Hand Tarek hatte sehen müssen, während er sich aus dem Nichts materialisiert hatte.
So also sah das für einen Beobachter aus.
»Tarek?« Der Hauptmann wandte sich verwirrt um und wollte sehen, was seinen Anführer so überraschte. Alles, was er sah, war der Antek, der unerklärlicherweise einen Blasebalg in der Hand hatte, wo es keinen Herd gab. Merkwürdig, aber nicht furchterregend. Jeder hätte alles aus dem Palast im Königinnenreich stehlen können.
»Klef«, brachte Tarek hervor. Der Hauptmann, der immer noch verwirrt war, salutierte und ging.
Tarek und ich starrten uns an.
»Antek«, sagte Tarek schließlich. Und dann: »Was soll ich wegen meiner Königin tun?«
»Sie ablegen«, sagte ich.
»Nein.«
»Mein Lord…«
»Du bist der Antek«, sagte er. Die Angst war verschwunden. »Du wirst ihre Träume enden lassen. Du wirst es jetzt tun. Klef.«
Ein Ruf nach meinem Wächter draußen, und ich wurde ins Zelt der zum zweiten Mal trauernden Prinzessin verfrachtet.
44
Diesmal kreischte Stephanie nicht. Darüber war sie hinaus. Erstarrt vor Entsetzen kauerte sie neben dem Körper ihrer Amme wie ein kleines Tier, das in einer Schlinge gefangen war. Erst als ich sie auf meinen Schoß zog, fing sie an zu zittern, aber sie gab noch immer kein Geräusch von sich. Ihr Schweigen war schrecklicher als ihr Kreischen beim letzten Mal.
»Was ist geschehen, Euer Gnaden?«, fragte ich, so sanft ich konnte.
Sie antwortete nicht.
»Euer Gnaden, habt Ihr geschlafen?«
Nichts.
»Stephanie, erzählt es mir. Habt Ihr geschlafen, als Eure Nana gestorben ist?«
Ein Nicken an meiner Schulter. Dann brach der Damm. »Ich habe geträumt. Das böse Mädchen ist gekommen… Sie hat gelacht …«
»Was hat sie gesagt?«
Nun zitterte sie so stark, dass ich sie kaum festhalten konnte.
»Hat sie gesagt: ›Stirb stirb stirb‹? War es so, Stephanie?«
Noch ein Nicken.
Ich rief auf Tarekisch: »Wache! Wache!«
Mein Wächter steckte den Kopf in das Zelt, den Blick sorgfältig auf den Boden gerichtet.
»Sucht eine Frau aus ihrem Volk, die sich um die Königin kümmert. Eine ältere Sklavin«– es gab kein anderes Wort– »und bringt sie jetzt her. Schickt zwei Männer, um diese Tote abzuholen.« Noch eine Beerdigung. Stephanie würde keine mehr durchstehen. Ich konnte dafür sorgen, dass sie nicht daran teilnehmen musste. Tarek würde auf mich hören– für den Augenblick zumindest. Ich verdankte die Gunst der Stunde einem Blasebalg, und ich
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