Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02
Erzählt es mir!«
»Ich… ich habe geschlafen… Ein Mädchen kam. Ich konnte es nicht deutlich sehen, aber es trug eine Krone, und seine Augen– die waren wahnsinnig, jawohl!«
»Was hat die junge Frau zu Euch gesagt?«
»Ich… ich…«
»Was hat sie gesagt?«
»Sie sagte: ›Stirb, stirb, mein Kleines.‹ Es hat keinen…« Und dann verstand sie. »Ich bin tot. Wie Lady Margaret.«
»Amme, nein. Lasst nicht…«
Ihr Körper sackte neben mir zusammen, und ihr Gesicht wurde schlaff.
Ich legte sie auf das Gras. Dann versuchte ich, sie fest zu schütteln– immerhin sind es alte Frauen, die am ehesten mit mir sprechen, aber die Amme war nicht alt genug. Ich konnte sie nicht wecken. Und was hätte ich sie auch fragen sollen? Sie hatte bestätigt, was ich bereits vermutete.
Meine Schwester tötete in Träumen. Sie konnte Träume nicht einsetzen, um unmittelbar jemanden im Land der Lebenden zu erreichen, außer jene mit einem Talent in den Seelenkünsten, und sie hatte in Prinzessin Stephanie so jemanden gefunden. Aber wie hatte meine Schwester Lady Margaret und die Amme getötet? Verzweifelt versuchte ich es zu ergründen. Ein Netz, hatten Mutter Chilton und Alysse gesagt, ein Netz des Seins, das die Lebenden und die Toten verband. Macht floss entlang der Fäden des Netzes, die gewaltige Macht des Todes, die uns früher oder später alle für sich beanspruchte. Ich stellte mir die Macht vor, die von meiner Schwester zu Stephanie floss, während das Kind schlief– Schlaf, der kleine Tod.
Und irgendwie hatte jene Macht durch Stephanies Schlaf die schlafende Lady Margaret erreicht. Sowohl Lady Margaret als auch die Amme waren eng mit dem Leben der Prinzessin verknüpft, mit ihren Gedanken, mit dem, was ihr von Herzen lieb war. Es hatte keine Anzeichen von Verletzung oder Krankheit an Lady Margarets Körper gegeben. Ihr Herz hatte einfach aufgehört zu schlagen.
Stephanie war sowohl der Kanal für diese Morde als auch der Grund dafür. Solange Lady Margaret und ihre geliebte Nana lebten, konnte Stephanie nicht von meiner Schwester vereinnahmt werden. Aber nun waren beide Frauen tot. Frauen aus dem Netz konnten die Prinzessin nicht erreichen, während sie so gut bewacht wurde. Aber für meine Schwester gab es keine solchen Hindernisse. Sie hatte das Mädchen auf schrecklichste Weise benutzt, und Stephanie hatte es nicht einmal erkannt. Ich hoffte, sie würde es nie herausfinden.
Aber was wollte meine Schwester überhaupt von Stephanie? Ich wusste es nicht. Mutter Chilton hatte mir nichts über die Prinzessin verraten, oder vielleicht wusste sie auch nichts. Alysse hatte gesagt, dass die Prinzessin besser erschossen worden wäre, aber sie hatte das Kind auch als unwichtig abgetan. Mein Vater hatte sie nicht einmal erwähnt. Das sprach dafür, dass keiner von ihnen gewusst hatte, wie meine Schwester durch die Prinzessin auf andere zugreifen konnte. Nur ich wusste es. Und was konnte ich dagegen tun?
»Helft Ihrer Gnaden«, hatte Lady Margaret gesagt.
Ich trat nach einem Felsen, ein dummer Ausbruch von Zorn, der mir nur einen geprellten Fuß einbrachte. Weshalb erwartete jeder Dinge von mir, die ich nicht erfüllen konnte? Lady Margaret, Tom, Jee, Lord Robert. Alles Leute ohne Seelenkünste, während jene, die sie besaßen, mich dazu drängten, sie nicht zu benutzen. Wie sollte ich auch nur mein eigenes Leben retten? Ich war siebzehn Jahre alt und Ereignissen ausgeliefert, die ich nicht kontrollieren konnte.
Aber zumindest konnte ich etwas für Tarek mitnehmen. Zum Henker mit Alysses Mahnung und dem Rat meines Vaters; seine Überzeugungen hatten ihm nicht dabei geholfen, der Gefangenschaft zu entgehen! Ich ging ein kleines Stück in den Nebel. Am besten wäre irgendein altmodischer Gegenstand geeignet, den Tarek erkennen würde, von dem er aber wissen würde, dass ich ihn auf keinen Fall schon bei mir getragen haben konnte. Ich suchte nach einem toten Krieger.
Stattdessen sah ich einen ganzen Kreis von Toten vor meinen Augen verschwinden.
Der Nebel hatte ein wenig nachgelassen. Durch die dünnen Schleier erspähte ich den Kreis, zehn Leute, die sich bei den Händen hielten, und ich ging darauf zu. In der Mitte schwebte eine dichte, dunkle Nebelschwade: Zuschauer aus dem Seelenrankenmoor. Noch während ich zurücksprang, bereit zur Flucht, begann der dichte Fleck zu wirbeln. Sein schwaches Summen wurde lauter. Schneller und lauter zog der Nebel Kreise, bis er zu einem wirbelnden Mahlstrom wurde. Dann kam ein
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