Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02
musste sie gut nutzen.
Der Wächter zog sich zurück. Ich versuchte, Stephanie zu beruhigen, hatte aber keinen Erfolg. Ihr Zittern wurde schlimmer, und eine warme, stechend riechende Flüssigkeit durchtränkte meinen Schoß. Durch den Schrecken hatte sie die Herrschaft über ihre Blase verloren. Sie war trotz allem ein Kind, das verhätschelt aufgewachsen war, und was wusste ich von verhätschelten Kindern? Nichts.
Es schienen Stunden zu vergehen, ehe der Soldat zurückkehrte, obwohl es nur ein paar Minuten gewesen sein konnten. Er hatte eine Frau mittleren Alters mit den groben roten Händen einer Wäscherin dabei. Der Wächter hatte eine gute Wahl getroffen. Sie erfasste die Lage sofort, und ich beobachtete, wie sie ihre eigene Angst niederkämpfte, als sie mir Stephanie abnahm, wobei sie das Gesicht des Kindes vom Leichnam der Amme abgewandt hielt.
»Schon gut, Euer Gnaden, ziehen wir Euch nur dieses nasse Kleid aus…«
»Roger!«, kreischte Stephanie.
»Ich bin hier, Euer Gnaden. Geht mit der… mit der Nana, und ich werde hierbleiben.«
»Das wirst du nicht, nicht während ich ihr ein anderes Kleid anziehe«, sagte die Frau empört. »Du wartest vor dem Zelt, bis ich dich rufe. Alles gut, Euer Gnaden, alles wird gut. Susannah ist jetzt hier…«
Susannah schien keine Angst vor mir zu haben, nicht einmal vor den Soldaten der Wilden, die den Körper der Amme wegschleiften. Ich stand neben meinem eigenen Wächter vor dem Zelt, meine Kleider feucht von der Pisse der Prinzessin, bis Susannah entschieden rief: »Du darfst jetzt wieder hereinkommen. Ach, aber dieser Geruch! Nein, nimm sie nicht, so nass wie du bist. Euer Gnaden, legt Euch auf das Lager, und er wird neben Euch sitzen und Euch die Hand halten.«
Stephanie hatte sich unter Susannahs strengen Befehlen beruhigt, aber in ihren Augen stand noch der eiskalte Schrecken, der mir ans Herz rührte. Ich setzte mich neben sie, murmelte Unsinn, aber der Schrecken wollte nicht weichen. Niemand kam. Schließlich sagte Susannah: »Sie muss schlafen, das ist es, was sie braucht. Ich habe eine Freundin, die einen Trank machen kann…«
»Nein! Nicht schlafen!«
Es brach ungefragt aus mir hervor, Worte, deren Wirkung ich nicht bedacht hatte. Wie sollte ein Kind ohne Schlaf auskommen? Aber Träume waren der Kanal, durch den meine Schwester sie erreichte. Wenn sie…
»Wie soll ein Kind ohne Schlaf auskommen können?«, wollte Susannah wissen. »Du bist dumm, wirklich, Hexenmann oder nicht. Ein Kind muss schlafen.«
»Nein«, stöhnte Stephanie. »Das böse Mädchen…«
»Sie wird nicht kommen, während ich hier bin«, sagte ich und hätte mich sofort auf die Zunge beißen mögen. Schon wieder. Ich hatte nicht die Macht, meine Schwester davon abzuhalten, in die Träume der Prinzessin einzudringen. Es war mir nicht einmal gelungen, sie anzulocken, damit sie in meine eindrang.
Aber Stephanie glaubte mir. Zum ersten Mal wich ein Teil der Furcht aus ihrem Blick. Nicht vollständig, aber ein Teil.
»Du kannst nicht hier schlafen!«, sagte Susannah schon wieder völlig empört. Offenbar fürchtete sie sich nicht vor Hexenwerk, aber vor Skandalen. »Ein Mann, der im Zelt Ihrer Gnaden schläft!«
»Ihr seid als Anstandsdame hier«, erklärte ich.
»Macht aus Käse kein Bier«, sagte sie, ein Spruch vom Land, den ich seit Jahren nicht gehört hatte. »Du gehst.«
»Roger bleibt«, sagte Stephanie, und zum ersten Mal sah ich in ihrem kleinen Gesicht etwas von der Entschlossenheit ihrer Mutter. In der nächsten Sekunde war sie wieder ein erschrockenes kleines Mädchen, aber der Tonfall hatte seine Wirkung gezeigt. Susannah war still.
Sie machte sich im Hintergrund nützlich, wusch das beschmutzte Kleid der Prinzessin und richtete sich in ihren neuen Obliegenheiten so gut ein, als wäre sie dafür geboren worden. Ich dachte an Tom, der das Talent hatte, sich an jeden Ort anzupassen, an dem er sich wiederfand, unermüdlich und furchtlos.
Stephanie kämpfte gegen den Schlaf an. Ihre Augenlider schlossen sich halb, dann riss sie sie wieder entsetzt auf. Wieder und noch einmal. Aber schließlich schlief sie.
Ich hätte sie wecken können. Aber was dann? Früher oder später würde sie schlafen müssen. Das Beste, was ich tun konnte, war, neben ihr zu sitzen und selbst wach zu bleiben, bereit, sie zu schütteln, wenn ihr Gesicht oder ihr Körper aufwühlende Träume vermuten ließen. Aber dann wurde mir auch diese Möglichkeit genommen, und nicht von der murmelnden
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