Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02
weshalb Stephanie Alpträume hat und weshalb Lady Margaret und die alte Amme getötet worden sind und weshalb ich dich und Jee und die Prinzessin in das Land der Toten bringen konnte. Du erinnerst dich an das Grab, Tom? Du erinnerst dich an den Pfad der Seelen? Finde doch darin einen Sinn.«
Er erinnerte sich. Ich sah es in seinen Augen– die Dunkelheit und die Würmer und seine fleischlosen Arme und Beine, die hilflos um sich schlugen–, und ich schämte mich. Ich schuldete Tom so viel, wie er mir schuldete. Aber ich konnte ihm keine Erklärungen geben, die ich nicht hatte. Ich wusste, dass der Tod eine unvorstellbare Macht hatte– etwas Helles und Schreckliches, das den Himmel zerriss –, aber ich verstand nicht, wie das Seelenrankenmoor diese Macht kanalisierte. Ich war ein Hisaf und konnte den Pfad der Seelen betreten, aber etwas zu tun bedeutete nicht zwangsläufig zu verstehen, wie man es machte.
Tom sagte: »Wenn diese alte Frau sich in den Kreis dort drüben setzt, dann hilft das… hilft das dem Seelenrankenmoor?«
Ich nickte. Das konnte er verstehen: wir gegen sie.
Tom nahm mir die alte Frau ab, brachte ein Seil zum Vorschein, das er wohl ebenfalls von den Toten gestohlen haben musste, und band sie fest an eine starke Eiche. Sein breites Gesicht war sehr blass. Dann zog er zwei weitere Tote aus dem Kreis und band sie an Bäume.
»Das reicht«, sagte ich, ohne zu wissen, ob es so war oder nicht. »In den Kreisen müssen mindestens zehn sein, damit… es funktioniert. Heb ein wenig Seil auf.«
»Werde ich«, sagte Tom grimmig. Die Farbe war in sein Gesicht zurückgekehrt. Er hatte eine Aufgabe zu bewältigen. Aufgaben beruhigten ihn immer.
Wir gingen zurück zu Jee und Stephanie, von denen keiner Fragen stellte. Ich wusste nicht, was Jee der Prinzessin erzählt hatte. Dann gingen wir weiter, Tom und Jee trugen unsere restlichen Vorräte auf dem Rücken. Wir sahen keine Kreise mehr so hoch in den Bergen, aber jedes Mal, wenn wir einen einsamen Toten trafen, fesselte Tom ihn oder sie ernst an einen Baum.
»George wäre stolz auf dich«, sagte ich, um etwas zu sagen.
»Erzähl ihm davon, wenn du ihn siehst«, sagte Tom, ohne mich anzuschauen. Er lächelte auch nicht. Seine Worte hätten sarkastisch gemeint sein können oder auch nicht. Ich konnte es nicht sagen. Und ich fragte nicht.
Stephanie träumte.
Wir konnten sie nicht ewig traumlos halten. Das bisschen Schlaf, das sie mit unserer Billigung erhaschte, war nicht genug, für niemanden. Sie fing an zu wimmern und zu nörgeln. Sie hatte so dunkle Ringe unter ihren Augen, dass ein Beobachter, hätte es im Land der Toten einen gegeben, gedacht hätte, wir würden sie misshandeln. Genauso wenig konnten Tom, Jee und ich den ganzen »Tag« marschieren und dann ohne Schlaf auskommen, da wir, jeder abwechselnd, über Stephanie wachten, um sie vor Träumen zu bewahren. Selbst Toms große Kraft ließ nach, und wir waren, soweit ich es abschätzen konnte, erst auf dem halben Weg den Osthang des Gebirges hinab. Als wir uns dem Königinnenreich näherten, wurde der Nebel im Land der Toten mehr– noch nicht dicht, nach wie vor nur leichte Schwaden, die über die Landschaft trieben–, aber er schien Stephanie zu beunruhigen. Sie starrte immer wieder treibende graue Schwaden an und vergrub den Kopf an Toms Schulter oder an meiner Seite.
Sie stolperte weiter und hielt sich an meiner heilen Hand fest, als wir auf einen weiteren Kreis aus Toten stießen und Stephanie zusammenbrach.
Es waren fünfzehn Tote, und sie hielten sich alle an der Hand. Auf der letzten Viertelmeile war der Nebel beinahe vollständig verschwunden, und jetzt sah ich, weshalb: Er hatte sich ganz auf diesen Kreis konzentriert. Nebel verschleierte alle fünfzehn Köpfe. Sollte ich die Hand auf einen dieser Köpfe legen, würde er, wie ich wusste, wie ein Bienenstock vibrieren. Und im Mittelpunkt des Kreises war ein dichter, dunkler Nebelfleck, der sich langsam drehte.
Tom und Jee erstarrten, beäugten erschrocken etwas, das sie noch nie gesehen hatten. Ich schon, und doch lief ein Schaudern durch mein Inneres und meinen Rücken hinab. Dieser dunkle, kreisende Nebel bestand aus Zuschauern aus dem Seelenrankenmoor, und wenn der Nebel das tat, was ich schon einmal gesehen hatte, würden diese toten Männer und Frauen bald…
»Nein!«, kreischte Stephanie. »Macht, dass es verschwindet!«
»Meine Dame, meine Dame«, gurrte Jee, der aus seiner Erstarrung erwachte und sich über sie beugte;
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