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Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02

Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02

Titel: Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kendall
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mich zu einem fehlgeleiteten Kind herab. Sie retteten mich, verführten mich, tadelten mich, machten mir Vorwürfe. Ich hatte es alles satt.
    »Ja, die Wilden hätten sie erschossen, und glaubst du nicht, dass Stephanie im Ruhezustand der Toten sicherer gewesen wäre denn als Werkzeug für deine Schwester, um sowohl die Lebenden als auch die Toten zu vernichten? Man hat dir das schon einmal gesagt. Sie hätte nicht für immer im Ruhezustand verharren müssen. Besser, sie wäre tot.«
    Ihre Härte machte mich wütend. Oder vielleicht war es nicht Härte, sondern eher eine Fähigkeit, weiter nach vorn zu blicken, als ich es je konnte. Sie hätte nicht immer im Ruhezustand verharren müssen. Aber eine sehr lange Zeit, und man hätte ihr das Leben hier genommen, im Land der Lebenden– einem kleinen Mädchen, sechs Jahre alt. Sie hätte sogar in einem der Kreise der Toten enden können, für immer zerstört von einem wirbelnden Mahlstrom aus dem Seelenrankenmoor. Ich sah Stephanies schmales, süßes Gesicht, die Augen mit den dunklen Schatten der Schlaflosigkeit, die von schlaffem, braunem Haar umrahmt waren, und alles in mir schreckte vor der pragmatischen, vorausschauenden Bereitschaft dieser Frau aus dem Netz zurück, die Prinzessin zu opfern und mit ihr auch Tom und Jee.
    Ich sagte, wobei ich jedes Wort sorgfältig aussprach: »Ich… lasse… nicht… zu… dass… sie… getötet… werden.«
    »Nein, lässt du nicht. Und daher hat das Seelenrankenmoor mehr Macht durch den Schaden erlangt, den du der natürlichen Barriere zwischen dem Leben und dem Tod zugefügt hast. Du musst aufhören, den Pfad der Seelen zu betreten. Verstehst du überhaupt, was deine Taten möglich gemacht haben? Es liegt teilweise an dir, dass Hisafs nun körperlich und nicht mehr nur geistig den Pfad der Seelen betreten können. Wie kannst du es auf dich nehmen, dass…«
    Ein Ruf kam aus der verriegelten Hütte. Plötzlich ergoss sich Licht aus der offenen Tür. Das Krachen eines Gewehrs ertönte.
    Sofort biss ich mich auf die Zunge und betrat den Pfad der Seelen. Aber im letzten Moment sah ich ein weißes Reh, das vor dem Schnee beinahe unsichtbar war und nun vom Hühnerhaus in den winterlichen Wald lief.

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    Das Bündel der Frau vom Netz enthielt Brot, Käse und getrocknete Kirschen. Tom, Jee und Stephanie aßen gierig, ohne auch nur zu fragen, wie ich an solche Reichtümer gelangt war, obwohl Jee mir einen scharfen Blick zuwarf. Stephanies Lippen wurden von den Kirschen rot, ein wenig Farbe in ihrem blassen Gesicht. Tom hatte Krümel im Bart.
    Aber ich brachte trotz meines Hungers nichts hinunter. Mein Magen rumorte, da er schon voll mit Zweifeln, Fragen, echten und eingebildeten Schrecken war. War ich wirklich ein Verräter, der dem Seelenrankenmoor bei seinem Streben danach half, den ruhigen Toten das zu rauben, was immer als Nächstes auf sie wartete? Hatte ich die Dinge in diesem Krieg wirklich zum Schlechteren gewendet?
    Im Land der Toten sahen die Dinge immer gleich aus: leichte Nebelschwaden, die reglos über dem Boden lagen, trübes, gleichmäßiges Licht, Ruhe und Reglosigkeit und sehr wenige Tote in diesen hohen Bergen. Aber außerhalb meines Blickfelds geschah offenbar mehr. Wie hatte die Hexe von diesen Geschehnissen gewusst– und sogar, wo ich mich im Land der Toten befand? Diese Frauen waren keine Hisafs; sie konnten den Pfad der Seelen nicht betreten. Ich verstand nicht, was sie tun konnten und was nicht.
    Ich verstand gar nichts.
    »Verdammt, das hat gut geschmeckt«, sagte Tom mit tiefer Zufriedenheit. »Jetzt bin ich bereit für einen Zehn-Meilen-Marsch, wirst schon sehen. Und ich kann Euch die ganze Strecke tragen, Euer Gnaden.«
    »Ich werde mit Jee gehen«, sagte Stephanie. Die Ringe unter ihren Augen waren dunkler denn je, aber ihre mit Kirschsaft verschmierten Lippen lächelten. Das Lächeln bescherte mir keinen Frohsinn.
    Ich, Roger Kilbourne, half dem Seelenrankenmoor. Und falls– wenn– ich drei Sterbliche zurück ins Land der Lebenden brachte, würde ich ihm noch mehr helfen?
    Sie wäre besser erschossen worden.
    Nein. Nicht besser. Nein.
    »Gehen wir«, sagte Tom. »Wir müssen… Was ist das?«
    Einer der Toten trat zwischen den Bäumen hervor auf uns zu.
    Es war eine alte Frau, die ein Kleid trug, das so ausgefranst und zerschlissen war, dass ein Teil des Rockes nur noch aus einzelnen Fäden bestand. Ihre Augen waren offen, sahen aber nichts, und ihr Gang war ein ungleichmäßiges Zucken, nicht das

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