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Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02

Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02

Titel: Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kendall
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ich weder sehen noch hören. Dann klärte sich mein Kopf, und ich sprang nach vorn, fiel vor der reglosen Gestalt auf die Knie.
    »Mutter!«
    Sie trug ihr lavendelblaues Kleid, und lavendelblaue Bänder waren in ihr Haar geflochten. Ein leichtes Lächeln spielte um ihre blassen Lippen. Sie war genauso ruhig und ohne Verstand wie die restlichen Toten. Ich zog sie an mich. Als meine Umarmung sie nicht weckte, hob ich sie auf die Füße, und ihre gefalteten Hände mit den langen, von Spitze gesäumten Ärmeln fielen von ihrem Schoß. Blut durchtränkte die Vorderseite ihres Kleides.
    Ich ließ sie sanft zurück auf den Boden gleiten und starrte hin. Es war kein altes Blut, braun und getrocknet. Es war frisch, hellrot, und jetzt konnte ich seinen Kupfergeruch wahrnehmen. Als ich mit den Fingern ihr Kleid berührte, waren sie danach mit Blut verschmiert.
    »Mutter!«
    »Roger«, sagte eine Frauenstimme, »du bist hier.«
    Sie kam durch den dunklen Nebel auf mich zu, und andere Gestalten bewegten sich mit ihr. Ich konnte keine davon deutlich erkennen. Im Nebel glitzerte eine Krone.
    »Wer bist du?«, schrie ich.
    »Tot seit elf Jahren.«
    »Wer?« Ich klammerte mich enger an meine Mutter, als könnte ich sie auf irgendeine Weise schützen, sie, die bereits tot war!
    Die gekrönte Gestalt ließ das Lachen ertönen, bei dem mir die Knochen schauderten. Und dann sagte sie: »Du gehörst nicht hierher, nicht auf diese Weise. Aber bald.«
    Und dann war ich auf einmal nicht mehr dort. Ich war zurück im Seelenrankenmoor, unter den Sternen an den flachen Stein gefesselt.
    Aber ich hatte mich nicht zurückbegeben. So ging das nicht; ich hatte mich stets bewusst dazu entschieden, aus dem Land der Toten zurückzukehren; ich hatte mir immer einen leichten Schmerz zufügen, meinen Willen konzentrieren müssen, und nur dann war ich durch das Grab gegangen, in dem meine Knochen des Fleisches beraubt wurden. Ich hatte immer eine Wahl gehabt.
    »Du flüchtest nicht auf diesem Weg«, sagte der alte Grünäugige. Weitere Schemen regten sich hinter seinen Augen. Er hob das Messer und schnitt sorgfältig mein Hemd auf. Ein kühler Nachtwind strich mir über die nackte Brust. Die Trommel war still geworden.
    Ich schrie: »Was ist mit meiner Mutter geschehen?«
    Es war, als hätte ich nichts gesagt, als wäre ich bereits tot. Er flüsterte rituelle Worte in einer Sprache, die ich nicht kannte, und hob das Messer über meinem Körper. Ich schloss die Augen.
    Das Krachen eines Gewehrs. Ich riss meine Augen rechtzeitig auf, um den Ausdruck der Überraschung auf dem Gesicht des Alten zu sehen, kurz bevor sein Körper nach hinten aus meinem Sichtfeld taumelte.
    »Peter!«, rief eine Stimme. Tom Jenkins. Und dann rannte er aus der Dunkelheit auf mich zu. Aber genauso auch Männer und Frauen– nicht die Alten und Mittelalten, die unter Drogen in dem runden Steinhaus saßen, sondern die kräftig gebauten Jungen aus Hygryll. Die Krieger. Sie rannten mit gezogenen Messern aus der Dunkelheit, kreischten, ihre Gesichter vor Entsetzen und wildem Zorn verzogen. Eine junge Frau warf sich auf den gefallenen Alten. Der Rest ging auf Tom los, der am Rande des Lichtkreises der Fackeln gerade noch sichtbar war.
    Er hielt inne, sein Gesicht verwirrt und unsicher. Dann begann er zu schießen. Aber er hatte mir gesagt, dass ein Gewehr nur dreimal schießen konnte, ehe man weitere Kugeln hineinstecken musste. Tom schoss zweimal und griff nach dem zweiten Gewehr aus der Schlinge auf seinem Rücken. Ich konnte erkennen, dass er es niemals schaffen würde. Ein Krieger sprang auf ihn zu. Tom Jenkins würde sich mir im Land der Toten anschließen.
    Eine graue Gestalt stürzte sich auf den Krieger. Sie fing ihn mitten in der Luft ab, und beide gingen zu Boden.
    Dann, während ich noch ungläubig blinzelte, waren es zwei graue Gestalten, drei, ein halbes Dutzend. Sie kamen nicht aus dem Moor gelaufen, sie waren einfach da, wie die Luft da ist.
    Oder der Nebel.
    »Peter!«, schrie Tom irgendwo. Die Krieger kreischten. An den Felsen gefesselt konnte ich nicht viel sehen, aber alles hören: die menschlichen Schreie der Qual, das nicht menschliche Knirschen von Zähnen auf Fleisch, das plötzliche Aufheulen eines Tieres, schrill vor Schmerz. Und über allem ein Gurgeln, das ich nicht vergessen kann, wenn Blut und Luft sich in herausgerissenen Kehlen mischten. Ich konnte nicht zuschauen, wie es geschah, aber ich sah es in meiner Vorstellung, und das war weitaus schlimmer. Das

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