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Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02

Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02

Titel: Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kendall
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ich sie eines Daseins beraubte, dessen Art und Weise ich nicht einmal richtig verstand. Nach allem, was ich wusste, waren die Toten in ihren Körpern ohne Bewusstsein verzückt und glücklich. Nach allem, was ich wusste.
    Ich legte Tante Jo zurück auf die Kiesel des kleinen Strandes. Nach Hartah trat ich wild und vollkommen sinnlos mit dem Fuß, woraufhin er mit dem Gesicht nach unten liegen blieb. Dann biss ich mir auf die Zunge und kehrte zurück.
    Es war gut, dass ich es getan hatte. Obwohl ich nur ein paar Augenblicke im Land der Toten verbracht hatte, waren im Land der Lebenden Stunden vergangen. Die Flut kam herein, und Wasser bedeckte meinen gefühllosen Körper zur Hälfte; noch ein paar Minuten, und ich wäre ertrunken. Es dämmerte, und Nebel wirbelte über den kleinen Strand.
    Ich stand auf, durchnässt und ausgekühlt. Eine Gestalt kam durch den Nebel auf mich zu.
    Einen verwirrten, grauenvollen Augenblick lang dachte ich, dass ich noch im Land der Toten wäre, und dass die Gestalt, eine Krone auf dem Kopf, jenes schreckliche Lachen erklingen lassen würde, das mir die Knochen schaudern ließ. Aber ich war im Land der Lebenden, der Nebel war nur der morgendliche Dunst, der sich auflöste, sobald die Sonne aufging, und die Frau trug keine Krone. Sie trug ein graues Kleid und eine graue Haube. Sie wirkte weder jung noch alt, weder dick noch dünn, weder schön noch hässlich. Sie wirkte allerdings zornig.
    Es war Mutter Chilton.

25
    »Also kannst du noch an jemanden außer an dich selbst denken, Roger Kilbourne«, sagte Mutter Chilton. »Das mag vielleicht das einzig Gute sein, was du in diesem Sommer getan hast– oder vielmehr nicht getan hast.«
    Ich konnte sie nur anstarren und stammeln: »Wie… wie…«
    »Wie ich gewusst habe, dass du darüber nachgedacht hast, deine arme Tante zurückzuholen, aber es nicht getan hast? Sei nicht so dumm, Roger. Ich weiß, dass du es nicht getan hast, weil deine Tante nicht hier ist, oder? Und ich weiß, dass du darüber nachgedacht hast, denn weshalb sonst solltest du an diesen Ort kommen? Es ist ja nicht so, als hättest du diesen Strand oder die Lichtung darüber in bester Erinnerung.«
    »Aber wie habt… wie habt Ihr gewusst, dass ich hier bin?«
    Sie starrte mich an, und unter jenem ruhigen, missbilligenden Blick fühlte ich mich wieder wie fünfzehn, ein liebeskranker Tölpel, der wegen eines Jungferntrunks in ihren Laden kam, ohne zu wissen, was es war oder weshalb Cecilia es brauchte. Ich lag wieder in einem leeren Apfelkeller, während Mutter Chilton mich vom schwarzen Eiter heilte, indem sie mir die Hand abnahm. Ich stand, von ihren Tränken benommen, in einer Geheimkammer des Palastes und sah zu, wie Königin Caroline auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Jeder schreckliche Fehler, den ich je begangen hatte, seit ich zuletzt an diesem feuchten Strand gestanden hatte, war mir wieder gegenwärtig. Und hier waren wir wieder, Roger, der Narr, und Mutter Chilton, die Retterin. Nichts hatte sich verändert.
    »Alles hat sich verändert«, sagte sie ernst, ohne meine Frage zu beantworten. »Roger Kilbourne, du musst aufhören, den Pfad der Seelen zu betreten. Aber erst musst du hier heraufkommen, weg von der Flut.«
    Das Wasser war in den paar Augenblicken, seit wir uns unterhielten, beinahe bis zur Oberkante meiner Stiefel gestiegen. Der kleine Strand bildete einen Trichter, durch den die Flut hereinzog. Mutter Chilton und ich kletterten den steilen Weg wieder empor, sie voraus. Hinter uns ging die Sonne auf, ließ den Nebel verdunsten, und das Meer lag blau und ruhig und hart vor uns.
    Oben auf dem Pfad, im Schatten einer Kiefer, die der salzige Wind verkrüppelt hatte, wandte sie sich mir zu. Aus Missbilligung war Dringlichkeit geworden. »Roger, du musst mir dein Versprechen geben, dass du den Pfad der Seelen nicht wieder betreten wirst, nie mehr. Es ist wichtiger, als du wissen kannst. Versprich es mir!«
    Zum ersten Mal überhaupt spürte ich, wie sich das Gleichgewicht zwischen uns verschob. Ich hatte etwas, das sie wollte. Voller Armseligkeit– und ich wusste, dass es armselig war, noch während ich es aussprach, denn ich schuldete ihr mein Leben– sagte ich: »Ich verspreche es nur, wenn Ihr mir erst Antworten gebt.«
    Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, aber ihre alten, jungen Augen glitzerten vor Zorn. Sie antwortete mir nicht, und mir war das Fehlen eines Widerspruchs Grund genug weiterzumachen.
    »Was war Fia?«
    »Ich denke, du weißt

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