Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02
der Toten geschehen war. Dieses Wissen verlieh mir den Mut, weitere Fragen zu stellen. »Weshalb ist frisches Blut auf dem Kleid meiner Mutter, wo es doch auf der anderen Seite des Grabes kein frisches Blut gibt? Und wer ist jene Frau im Nebel, die meinen Namen kennt? Die Frau, die sagt: ›Tot seit elf Jahren‹?«
Mutter Chilton stöhnte. »Dann hat sie dich gesehen.«
»Ja.«
»Und mit dir gesprochen?«
»Ja.«
»Das ist sehr schlimm.«
»Wer ist sie? Sagt es mir, oder ich werde nichts versprechen.«
»Du drohst mir, du unwissender, herumpfuschender Junge?«
»Ich bin kein Junge mehr«, sagte ich heißblütig, »und wenn ich herumgepfuscht habe, dann liegt das daran, dass mir niemand je das nötige Wissen vermittelt hat, damit ich mich klug verhalten konnte. Also sagt es mir, Mutter Chilton, oder ich mache Euch keine Versprechungen. Wer ist diese Frau?«
»Sie ist keine Frau. Sie ist ein Mädchen, vor elf Jahren geboren. Sie ist ein Mädchen, und sie ist deine Schwester.«
Die Worte ergaben keinen Sinn für mich, ließen sich nicht zu irgendetwas in Bezug setzen, das wirklich war. »Meine…«
»Deine Mutter hat einen Hisaf geheiratet. Hisafs heiraten keine Mädchen aus dem Königinnenreich, aber sie haben sich verliebt. Sie war schön, und er war stur. Niemand von uns hat die Ehe gutgeheißen, aber…«
»Wer ist ›uns‹?«
Sie fuhr fort, als hätte ich nichts gesagt. »Sie haben geheiratet, und du wurdest geboren. Sechs Jahre später hatte deine Mutter noch eine Geburt, und dabei ist sie gestorben. Viele Frauen sterben im Kindbett, das weißt du.«
Ich erinnerte mich an die Besucher in der Herberge in Apfelbrück vor Monaten, vor einem ganzen Leben. Lord Carush Spenlows Schwiegertochter, die frisch aus dem Kindbett gekommen war, blass und fiebrig. Die Hebamme, die gesagt hatte: » Dieses Mädchen, Lady Joanna, wird sterben. Es gibt nichts, was ich tun kann.« Der Säugling, der im Wagen gebrüllt hatte . »Es ist wirklich ein Jammer.«
Mutter Chilton sagte: »Aber deine Mutter war anders, Roger. Sie hat das Kind eines Hisafs ausgetragen, und sie ist genau in dem Augenblick gestorben, ehe sie es geboren hat. So etwas war noch nie zuvor geschehen. Deine Schwester wurde im Land der Toten geboren, in jenem kurzen Augenblick, bevor die Toten in den Dämmerzustand übergehen. Verstehst du? Das Kind hatte keinen Körper im Land der Lebenden. Sie hat hier nie existiert. Sie ist auf der anderen Seite des Grabes aufgewachsen.«
»Ich verstehe das nicht, nein.«
Mutter Chilton sagte: »Und doch ist es so.«
»Aber wie konnte ein kleines Kind überhaupt überleben? Wenn meine Mutter in den stillen Dämmerzustand der Toten übergegangen ist, wie konnte sie sich um das Kind kümmern?«
»Das konnte sie nicht. Das hat sie auch nicht. Deine Schwester ist in den ersten Jahren von einer Reihe Toter aufgezogen worden, alten Frauen, die kurzzeitig von den verdorbenen Hisafs aufgeweckt wurden, die in dieser bizarren Geburt ihre Chance sahen. Als das Kind ein wenig älter wurde, brachten sie ihm selbst Nahrung. Aber es hat den Großteil seines Lebens allein verbracht, dort bei den Toten. Deine Schwester ist ein Quell riesiger Macht für die abtrünnigen Hisafs, für jene, die mit dem Seelenrankenmoor zusammenarbeiten. Selbst ein Hisaf muss sterben, und jene Treulosen wollen es nicht. Aber deine Schwester ist kein Hisaf. Sie kann den Pfad der Seelen nicht betreten, und wenn jemand sie herüberbringen würde, würde sie aus jeglichem Dasein ausgelöscht wie eine erstickte Kerze. Sie weiß es. Was sie ist, Roger, ist eine Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten. Sie lebt, und doch hat sie nie gelebt. Und…«
Ich sagte: »Meine Schwester ist wahnsinnig.«
»Wärst du das nicht, wenn du so lange auf diese Weise existieren müsstest?«
»Ja.«
»Tot seit elf Jahren …« Und doch nicht tot.
Mutter Chilton sagte müde: »Geh zurück zu Maggie, Roger Kilbourne. Gib mir das Versprechen, dass du nie wieder den Pfad der Seelen betreten wirst, und dann geh zurück zu dem armen Mädchen, das dich unerklärlicherweise liebt. Ich habe dir genug erzählt.«
»Nein, das habt Ihr nicht! Weshalb darf ich den Pfad der Seelen nicht betreten? Was kann mir meine Schwester antun?«
»Wir wissen es nicht sicher. Wir wissen, dass sie in der Hand der abtrünnigen Hisafs ist, die sie für ihre eigenen Zwecke benutzen wollen. Sie ist einzigartig, weder lebendig noch tot– wer kann sagen, wozu sie fähig wäre? Und wir nehmen
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