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Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02

Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02

Titel: Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kendall
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nicht. Es war merkwürdig, einen solch ruhigen Ausdruck auf ihrem Gesicht zu sehen, das ich nur vor Sorge verkniffen und vor Angst verzerrt gekannt hatte. Ein kleines Stück entfernt saß Hartah, der Quell all jener jahrelangen Sorge und Angst. Ich sah ihn nicht unmittelbar an, den brutalen Ehemann meiner Tante, der sowohl sie als auch mich gepeinigt hatte. Es gab nichts mehr, was ich von ihm wollte. Alle Rechnungen zwischen uns waren in der Nacht des Schiffsunglücks beglichen worden, als ich ihm sein eigenes Messer in die Rippen gestoßen hatte.
    »Tante Jo, ich bin’s, Roger. Roger Kilbourne.«
    Sie blickte ernst ins Leere, aus Augen, die so hellbraun wie meine waren. Die Augen meiner Mutter waren dunkler, hatten die Farbe von reicher Frühlingserde. Tante Jo war ihre ältere Schwester gewesen, aber ich wusste nicht, um wie viele Jahre älter. Auch wusste ich nicht, wie alt meine Mutter gewesen war, als sie gestorben war. Ich war jetzt siebzehn. Wenn meine Mutter, sagen wir, zwanzig gewesen war, als ich geboren wurde, und ihre Schwester zehn Jahre älter, würde das bedeuten, dass meine Tante vierundvierzig gewesen war, als sie starb. Noch keine alte Frau, und es sind die alten Frauen, die sich am ehesten mit mir unterhalten wollen.
    »Wach auf, Tante Jo!« Ich rüttelte sie an der Schulter. Sie regte sich nicht.
    »Du musst aufwachen! Ich weiß nicht, wo Mutter Chilton ist, und du bist die einzige andere Person, die mir etwas über… das, was ich wissen muss… erzählen kann. Wach auf!«
    Sie wachte nicht auf. Ich packte ihren dünnen, zerbrechlichen Körper und schüttelte ihn fest. Meine Stimme erhob sich zu einem Schrei: »Tante Jo!« Sie regte sich nicht.
    War sie wirklich zu jung, um geweckt zu werden, oder zog ihr träumender Verstand die Ruhe des Todesdämmerns dem Grauen vor, das ihr Leben gewesen war? Der Riss, der ihren Kopf gespalten hatte, als Hartah sie mit der messingbeschlagenen Holzkiste getroffen hatte– dieser Riss war fort. Die Toten stellten auf der anderen Seite des Grabes nicht ihre tödlichen Verwundungen zur Schau. Aber ich konnte ihr schreckliches Leben mit Hartah dennoch in der Hagerkeit ihres Körpers und ihren ausgemergelten, eingesunkenen Wangen sehen. Sie sah älter aus als vierundvierzig, alt genug, um geweckt zu werden. Ich hatte im Land der Toten schon andere alte Frauen geweckt, und vielleicht war sie auch älter und entschied sich nur dafür, im Dämmerzustand zu bleiben.
    Dieser Gedanke machte mich zornig. Ich schüttelte sie wieder. »Wach auf! Wach auf! Es gibt Dinge, die ich wissen muss, und nur du kannst sie mir erzählen. Wer ruft meinen Namen im Land der Toten? Weshalb ist auf dem Kleid meiner Mutter frisches Blut? Wer war mein Vater? Verdammt, Tante Jo, wach auf, oder ich… ich…«
    Ich konnte es nicht aussprechen. Aber ich war bereit, es zu tun: Wach auf, oder ich werde dich mit mir zurück ins Land der Lebenden nehmen und dich zum Sprechen bringen.
    Ich konnte es tun. Ich hatte es schon getan. Und wenn ich es tat, würde Tante Jo vierzehn Tage lang ein erneuertes Leben haben, und dann würde sie für immer vergehen, würde in weniger als einer Minute vollkommen zerfallen und in keinem der beiden Reiche mehr existieren. Worauf immer die Toten warteten– wenn sie warteten–, sie würde es nicht bekommen; den Tod konnte man nicht lange betrügen. Ich würde meine Antworten bekommen, aber meine Tante würde nicht in die Ewigkeit eingehen.
    »Verflucht seist du! Antworte mir, oder ich werde es tun! Wach auf! Wach auf! Wer ruft meinen Namen im Land der Toten? Wer war mein Vater? Wer? Wer?«
    Wie eine Puppe schüttelte ich sie mit meiner heilen Hand hin und her. Kein Gefühl, kein Wiedererkennen, kein Leben trat in ihr Gesicht. Ich zog sie dicht an mich und machte mich bereit, aus dem Land der Toten zurückzukehren.
    Aber im letzten Augenblick konnte ich es nicht tun.
    Diese Frau hatte mich nicht vor Hartah beschützt, aber mich aufgenommen, als meine Mutter gestorben war und mein Vater mich nicht abgeholt hatte. Tante Jo hatte mit mir das wenige Essen geteilt, das Hartah uns überließ. Sie hatte mich an jenem schrecklichen Tag des Schiffsunglücks gedrängt, vor Hartah zu fliehen, solange ich es noch konnte (»Geh, Roger! Geh!«). Acht Jahre lang war jede Freundlichkeit, die ich genossen hatte, von ihr gekommen, und wenn es auch nicht viel gewesen war, hatte sie sich dennoch bemüht, sie mir zuteilwerden zu lassen. Ich konnte ihr das nicht dadurch vergelten, indem

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