Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02
gelangten wir von den Unbeanspruchten Landen ins Königinnenreich.
Und dann, nach langen Tagen beschwerlichen Reisens, als der üppige Dunst des Sommers über dem Land lag, gelangten wir an einen Ort, den ich gut kannte. Eine verlassene Hütte auf einer Lichtung, von der ein Pfad zu einer steilen Klippe über einem Strand mit Kieseln führte. Riesige, halb versunkene Felsen erstreckten sich ins Meer hinaus. Ich stand oben auf dieser Klippe, blickte auf das ruhige blaue Meer, doch die Szene in meinen Gedanken war ganz und gar nicht friedlich.
»Peter«, sagte Tom mit einer dieser seltenen, unerwartet einfühlsamen Eingebungen, die er manchmal hatte. »Was ist? Du wirkst so… so…«
»Es ist nichts.«
Er sagte leise: »Du bist schon einmal hier gewesen. Und auf dieser Lichtung bei der Hütte hängt ein verrottetes Henkersseil von der Eiche.«
Der Körper des blonden Jünglings– sein Haar hatte dieselbe Farbe wie das von Tom gehabt– war längst fort. Es war drei Jahre her, seit Hartah und sein mörderischer Trupp die Frances Ormund auf den Felsen unterhalb auf Grund hatten laufen lassen und von den Soldaten der Königin erwischt worden waren. Im Augenblick segelten keine Schiffe über jenen stillen Horizont, und der Strand war von der Sonne beleuchtet, nicht vom Feuer eines trügerischen Scheiterhaufens, um den Steuermann glauben zu machen, dass hier ein sicherer Hafen in einem wilden Sturm zu finden war. Irgendwo an diesem Strand saßen, ungesehen, die Toten. Die gestorben waren bei diesem Schiffsunglück, ermordet von Hartahs Männern, ermordet von Soldaten. Und einer, der von Hartah getötet worden war, und einer, den ich getötet hatte.
»Ja«, sagte ich zu Tom, »ich bin schon einmal hier gewesen.«
24
In dieser Nacht schlief Tom neben unserem Feuer auf der Lichtung. Ich brach mein Versprechen Fia gegenüber zum zweiten Mal. Ich betrat den Pfad der Seelen.
Erst musste ich einen Weg hinab zum Strand finden. Ich erinnerte mich, dass vor drei Jahren im Land der Toten– dessen Landschaft dem Land der Lebenden ähnelt, es aber nicht genau abbildet– kein Pfad von der Klippe hinab zum Strand geführt hatte. Das war der Ort, wo ich zum ersten Mal gesehen hatte, wie der Seemann Kauz durch die Luft flog, wodurch ich erkannt hatte, dass die Toten– wenn sie nicht in den stillen Ruhezustand verfielen– eine Macht hatten, die mir nicht bewusst gewesen war. Aber ich war nicht tot und konnte nicht durch die Luft fliegen, weder hier noch dort. Also suchte ich mir, bevor ich den Pfad der Seelen betrat, vorsichtig einen Weg hinab zum Strand.
Der Hund folgte mir. Er schnüffelte interessiert an Büschen, an Löchern im Boden, an Spuren. Als ich schließlich am Strand ankam, verlor er das Interesse, legte sich auf die Kiesel und schlief ein.
Bei Sonnenuntergang war eine schwache Brise aufgekommen, von der das Wasser zu kleinen Wellen aufgewühlt wurde, die Richtung Küste liefen. Ich stand lange dort, sah, wie sich das Wasser sanft an den Felsen brach, und sammelte Mut. Dann legte ich mich am Fuß der Klippe hin, schlug mit einem Stein auf meinen Oberschenkel ein und betrat den Pfad der Seelen.
Dunkelheit …
Kälte …
Erstickender Dreck in meinem Mund …
Würmer in meinen Augen …
Erde, die meine fleischlosen Arme und Beine umschloss …
Die Nacht wich dem gleichmäßigen trüben Licht des Landes der Toten. Hier war der Nebel zerrissen, hing in verstreuten, blassen Schwaden in der Luft. Einen langen Augenblick stand ich reglos, wartete ab, um herauszufinden, ob man mich zurückschicken würde, wie es im Seelenrankenmoor geschehen war. Aber nichts riss mich fort, und so begab ich mich durch den Nebel auf die Toten zu.
Sie saßen auf dem Strand oder auf den Steinen, manche weit draußen im Meer, wurden jedoch von keinen Wellen behelligt. Es gab einen Kreis der Toten, aber er bestand nur aus vier Seeleuten; sie fassten sich nicht an den Händen, und kein dichter Nebel hüllte ihre Köpfe ein. Was immer das Seelenrankenmoor mit dem Land der Toten anrichtete, es hatte die Ostküste noch nicht erreicht.
Nicht alle Toten an dem kleinen Strand waren Seeleute oder Verunglückte. Im Laufe der Zeit waren andere Menschen hier gestorben. Ich sah zwei kleine Kinder, die altmodische Kittel anhatten, einen Fischer und einen barfüßigen Mann, der in grobe Pelze gekleidet war. Nur eine Frau befand sich auf dem Strand. Ich ging hinüber und kauerte mich neben sie hin.
»Tante Jo?«
Sie antwortete mir natürlich
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