Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02
an, dass sie auch danach trachten, dich zu benutzen, durch sie, obwohl wir noch nicht wissen, auf welche Weise. Versuch dich daran zu erinnern, Roger Kilbourne, dass du nicht allein auf dieser Welt bist– auf keiner dieser Welten. Du bist kein Staubkorn, das durch die leere Luft schwebt. Was du tust, hat Folgen für das ganze Netz des Seins.«
»Aber ich bin ein Hisaf!« Es klang wie das Wimmern eines Kindes, als ich es sagte.
»Es gibt viele Hisafs. Aber du bist anders als die anderen.«
Zorn erfüllte mich. Sie war so aalglatt, diese Frau, die im Schatten einer windgekrümmten Kiefer stand. Auf irgendeine Weise warfen ihre Augen alles Licht zu mir zurück. Sie würde mir nichts einfach so verraten. Ich wollte sie mit meiner einen heilen Hand schlagen– ich, der nie eine Frau geschlagen hatte–, aber ich wusste, dass ich sie nie wiedersehen würde, wenn ich das tat.
»Inwiefern bin ich anders?«
Sie sagte: »Weil du mit deiner verrückten Schwester durch dein Blut verbunden bist. Und weil dein Vater anders ist als andere Hisafs.«
Ich starrte sie an. Sie hatte es einfach nur gesagt, als hätte der Satz nicht die Macht, mich umzuwerfen. Und sie fuhr im selben Tonfall fort.
»Er irrt sich schrecklich, was das Wesen dieses Krieges angeht. Aber er tut dennoch sein Bestes. Wie wir alle.«
»Mein Vater lebt? Und er hat mich nie besucht oder zumindest…«
»Leise! Horch!«
Da hörte ich es; Rufe, die durch die Bäume drangen. Sie kamen von der Hütte auf der Lichtung.
Mutter Chilton packte mich beim Arm. »Gib mir dein Versprechen! Du wirst nie wieder den Pfad der Seelen betreten!«
»Soldaten…«
»Sag es! Ich habe meinen Teil dieses unheiligen Handels erfüllt!«
Ich sagte: »Ich verspreche, dass ich niemals wieder den Pfad der Seelen betreten werde. Mein Vater…«
Vier Soldaten brachen zwischen den Bäumen hervor. Wir standen dort, Mutter Chilton und ich, mit dem Rücken an der Klippe. Es gab keine Fluchtmöglichkeit. Aber dies waren nicht die Soldaten der Wilden aus der Armee des Junghäuptlings; sie trugen die purpurnen Tuniken und Schulterembleme von Prinzessin Stephanie, vom Königinnenreich. Ich hätte vor Erleichterung weinen mögen– aber nur einen Augenblick lang.
»Das ist er!«, schrie ein Mann. Einen Augenblick später hatten sie mich und Mutter Chilton eingefangen. Sie zerrten uns den Weg entlang zur Lichtung. Tom Jenkins lag vor der Hütte, neben unserem Feuer. Sein Blondschopf war von Blut verklebt. Er bewegte sich nicht.
Ein großer Mann mit dem Emblem eines Hauptmanns auf dem Hemd musterte mein Gesicht. Er nickte und machte eine Geste, und einer der anderen eilte nach drinnen. Der Hauptmann, der das schmale Gesicht und das spitze Kinn eines Wiesels hatte, bemerkte: »Du bist Roger Kilbourne.«
Ich sagte nichts. Eine heisere Stimme meldete sich bebend: »Meister…«
Der Hauptmann sagte ungeduldig zu den anderen: »Lasst die alte Frau gehen. Wir haben keine Befehle, was greisenhafte Dienerinnen angeht!«
Ich wandte mich um und sah nach Mutter Chilton. Ihr Gesicht hatte sich in tiefe Falten gelegt; ihr Kopf beugte sich auf einem knotigen Hals nach vorn; ihre Augen waren vom Rheuma hohen Alters milchig. Der Soldat ließ sie frei. Wieder wimmerte sie vor mir, verzweifelt und unterwürfig: »Meister…« Der Soldat gab ihr einen Schubs, und sie fiel beinahe hin. Nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatte, schlurfte sie davon. Nicht einmal drehte sie sich nach mir um.
»Roger Kilbourne«, sagte eine Stimme hinter mir, und ich wandte mich um. Die Stimme war sowohl undeutlich als auch von einem schweren Akzent gefärbt. Ich glaubte noch vor dem Umdrehen zu wissen, wer es war.
Der Wilde, vom Sänger zum Krieger geworden, war letztlich doch nicht durch den Angriff von Schatten in der Hütte in Almsburg gestorben. Anders als die anderen drei Soldaten hatte er diese brutale Verstümmelung irgendwie überlebt. Aber sein hübsches, junges Gesicht war schrecklich entstellt. Ein Auge war von einer Binde verdeckt. Sein Mund verzog sich zu einer grotesken Linie, die Lippen waren halb abgerissen und noch immer nicht verheilt. Seine Stimme kam undeutlich und abgehackt aus einem Hals, der in Verbände eingeschlagen war. Sein eines Auge sprühte vor Zorn.
Diesmal, das wusste ich, würde es keinen Hund geben, der mich rettete. Wolle, der nicht Wolle war, war mir nicht vom Strand herauf gefolgt. Seine Zeit im Land der Lebenden war um, und damit auch sein Dasein. So wie es auch bei mir bald der Fall
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