Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02
Augenblick befanden. Aber wo waren die Leute? Die Höfe– ein jeder eleganter als der vorausgehende gestaltet, während wir von den Unterkünften der Dienerschaft in die der Höflinge vordrangen– waren alle leer. Nicht einmal ein Gärtner oder Page oder Schreiner war zu sehen. Nur ein paar Soldaten der Wilden patrouillierten auf den Hausdächern. Der Palast war das Gegenteil des Landes der Toten– es gab alle Gebäude, doch keine Bewohner–, aber genauso still. Das einzige Geräusch waren die Stiefel meines Wächters, erst auf Pflastersteinen und dann auf bemalten Kacheln, und das leise Quietschen meiner nassen Füße in den nassen Stiefeln.
Aber dann kamen wir zu den königlichen Gemächern, und ich hatte meine Antwort.
Die gewaltigen geschnitzten Türen des Thronsaals, so hoch wie drei Stockwerke, standen offen. Innerhalb des riesigen Raums machten Fackeln und Kerzen entlang der Wände das Zwielicht beinahe so hell wie den Tag. Der Adel drängte sich zu beiden Seiten der Empore des Throns, genauso wie ich es aus der Zeit der Herrschaft von Königin Caroline in Erinnerung hatte, aber nun trugen sie Purpur anstelle von Grün. Purpurne Samt-, Satin-, Brokat- und Seidenkleider. Die Kleider der Damen waren an den Brüsten tief ausgeschnitten; die Hemden der Höflinge zierten Schärpen aus Goldstoff; die langen Roben der ältlichen Ratgeber waren an den Säumen und langen Ärmeln reich bestickt. Und sie waren alle vollkommen still.
An der linken Wand standen die Diener des Palastes, sauber geschrubbt und in das gekleidet, was bei ihnen als das Beste durchging. Köche, Gärtner, Küchenmägde, Schreiner, Diener, Kuriere, Stallknechte, Putzfrauen, Kammerzofen. Ich erkannte einige von ihnen. Die Gesichter der wenigen, die mich erkannten, wurden vor Entsetzen schlaff.
Verteilt in der stillen Menge standen Soldaten, die in Purpur gekleidet waren, jedoch Gewehre trugen. Ich hatte schon zuvor Soldaten des Königinnenreiches in der Armee der Wilden dienen sehen, aber nie zuvor hatte ich gesehen, dass sie Gewehre trugen. Was dachten die Leute über jene, die sich gegen ihr eigenes Volk wandten?
Aber ich wusste es bereits.
Am Eingang des riesigen Raums überließ mich der Wilde einem anderen, einem Hauptmann mit Helm und Armschienen aus Metall, über dessen ärmelloser Felltunika ein kurzer Federumhang hing. Er nahm mich beim Arm und zog mich nach vorne. Und so schritten wir die ganze riesige Länge der Halle ab, alle Blicke auf mich gerichtet: ein Hauptmann der Eroberer und ein Verräter der Eroberten, und nicht einer gab auch nur einen Laut von sich.
Ich ließ den Blick geradeaus gerichtet. Auf der Empore entdeckte ich ein Sakrileg: Nicht einer, sondern zwei Throne standen dort.
Als wir die Empore erreichten, zog mich der Hauptmann auf eine Seite. Ein Murmeln hob hinter mir an, so schwach, dass es eine Brise hätte sein können, die durch die Wandbehänge strich. Der Wilde hielt mich gut am Arm fest. Wir warteten alle.
Jedermann wusste offenbar, worauf wir warteten. Und dann, begleitet von einem widerwärtigen Krampf im Magen, wusste auch ich es.
28
Zehn Minuten vergingen. Fünfzehn. Zwanzig. Es war eine lange Zeit, wenn man sich weder bewegte noch unterhielt.
Die Diener, die den riesigen Toren am nächsten waren, mussten es als Erste gehört haben. Ihre Blicke wandten sich zum Hof davor, und diejenigen, die am weitesten entfernt waren, drehten die Köpfe und wirkten wie Leute, die sehr genau lauschten. Dann konnten wir alle es hören. Für mich gewann der Thronraum die Dimension eines Traumes, irgendwo zwischen Erinnerung und neuer Erfahrung. Denn ich hatte all das schon einmal gesehen vor drei Jahren, und dass ich es wieder sah, hieß, einen Augenblick lang zu glauben, ich wäre Roger der Narr, der Junge, der von nichts eine Ahnung hatte, nicht der Mann, dem zu viel bewusst war.
Als Erstes trat ein junger Sänger ein. Er trug rote Farbe auf dem Gesicht und Zweige im Haar. Er hätte der Sänger von vor drei Jahren sein können– nur dass genau dieser Sänger ein Mann und ein Soldat geworden war und ein Hund aus dem Land der Toten sich in seinen Hals verbissen und ihm ein Auge herausgerissen hatte. Aber selbst jene Stimme, kräftig genug, um die hohe, gewölbte Decke zu erreichen und von den Steinmauern zurückgeworfen zu werden, war die gleiche.
»Ay-la ay-la mechel ah!
Ay-la ay-la mechel ah!
Bee-la kor-so tarel ah!
Ay-la ay-la mechel ah!«
Der Junge sang, während er die ganze Länge des Thronsaals
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