Das Land hinter den Nebeln - Buch der Seelen 02
durchschritt. Als er das leere Podium erreichte, stellte er sich auf eine Seite, so nahe, dass ich mich, wenn meine Arme nicht hinter meinem Rücken gefesselt gewesen wären, hätte ausstrecken und ihn berühren können. Er sang, und die Armee der Wilden marschierte in den Thronsaal, in Zweierreihen, hämmerte mit ihren Keulen auf den Boden und sang mit dem Jungen.
»Ay-la ay-la mechel ah!
Ay-la ay-la mechel ah!
Bee-la kor-so tarel ah!
Ay-la ay-la mechel ah!«
Diesmal waren es nicht so viele Soldaten wie damals, als Königin Caroline sie auf ihrem Thron erwartet hatte. Ein Teil dieser Armee hielt den Palast, ein anderer Teil hatte das Königinnenreich besetzt, ein weiterer Teil suchte vielleicht noch die Unbeanspruchten Lande nach mir ab. Dennoch, es marschierten genug Soldaten ein, denen ihre Hauptleute folgten, um die rechte Seite des Raums zu füllen, den Palastdienern gegenüber. Bei beiden Gruppen zeigte sich in jedem Winkel der Körperhaltung angestrengte Anspannung.
Die Wilden wurden still, und der junge Sänger hielt inne. Dann fing er wieder an mit einem Lied, das ich noch nie gehört hatte. Seine Stimme erhob sich mit so ausufernder Freude, dass ich mich nur wundern konnte, wie seine Barbarenkehle ein derartiges Hochgefühl ausdrücken konnte. Das Lied hatte keine Worte, es war reiner Klang, und doch schien es sowohl das Trillern von Vögeln als auch die Trommelschläge des Sieges zu enthalten.
Eine einzelne Gestalt erschien im Eingang. Rasch, als würde er von der Musik getragen, durchquerte der Junghäuptling den Saal. Er trug denselben Helm, dieselbe ärmellose Felltunika und dieselben Stiefel wie seine Hauptleute, aber die Federn seines kurzen Umhangs hatten jede Farbe eines jeden Vogels, den es je gegeben hatte, und auf den Goldbändern um seine Oberarme glitzerten rote Edelsteine. Ich erkannte Lord Soleks Züge in einem jüngeren Gesicht, und Lord Soleks Augen, so blau, dass sie wie Splitter des Himmels wirkten. Der Junghäuptling hatte nicht die gewaltige Größe und die muskulöse Masse seines Vaters, aber er hatte die Stärke und Gesundheit eines jungen Mannes von zwanzig Jahren.
Ohne einen Augenblick zu zögern, erklomm er die Stufen des Podiums und setzte sich auf einen der Throne.
Hinter mir ertönte ein Ächzen, das von allen und niemandem kam. Die Soldaten der Wilden packten ihre Messer fester. Aber nicht ein Höfling, Berater oder Diener gab noch einen Laut von sich. Ich konnte mir nur vorstellen, wie schmerzhaft es war, diese Zurückhaltung zu wahren.
Nun erschienen drei Mädchen im Eingang. Es war das erste Mal, dass ich Frauen unter den Wilden gesehen hatte, und einen Augenblick lang war die Überraschung stärker als die Angst. Die Menge hinter mir keuchte auf.
Sie waren sehr jung, nicht älter als dreizehn oder vierzehn, und anfangs schienen sie nackt zu sein. Das waren sie nicht, aber der Stoff, der um ihre noch kaum entwickelten Körper schwebte, war so leicht und fein, dass er wie Nebel wirkte. Ihre kleinen, rosaroten Brustwarzen waren durch das dünne Gewirk sichtbar, und auch das blasse Haar ihres Geschlechts. Alle drei hatten so helles Haar, dass es weiß schien, und die langen, offenen Strähnen umflossen sie so locker wie die durchsichtigen Stofffalten. Sie schienen überhaupt keine Angst zu haben.
Sie gingen nach vorn, sangen in derselben wortlosen Sprache wie der Junge. Es war, als würden die Mädchen über dem Boden schweben. Als sie ein Viertel des Weges zum Podium hinter sich hatten, erschien eine winzige Gestalt im Eingang, die ihnen folgte. Es war Prinzessin Stephanie.
Als ich sie zuletzt gesehen hatte, war sie drei Jahre alt gewesen. Nun war sie sechs und kaum größer als zuvor. Sie war immer schon kränklich gewesen, und es sah aus, als könnten ihre bebenden Knochen kaum all die Edelsteine tragen, die auf ihr purpurnes Samtkleid genäht waren. Ihr schlaffes braunes Haar fiel über ihren Rücken hinab. Wie viel verstand sie von dem, was sich hier abspielte?
Die Prinzessin folgte den singenden, beinahe nackten Mädchen, die im Vergleich zu ihr plötzlich wie reife Frauen wirkten. Stephanie hatte nichts von der Unerschrockenheit ihrer Mutter, und auch nichts von der Würde ihrer Großmutter. Sie war ein zitterndes, kleines Mädchen, das versuchte, nicht zu weinen, und als sie näher kam, erfüllte mich Mitleid aufgrund der Angst in ihren großen grauen Augen.
Am Podium hörten die Mädchen auf zu singen und setzten sich anmutig auf die Stufen. Die
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