Das Land jenseits des Waldes, Band I
gerade hier, ein Gespür für die grundlegenden Selbstverständlichkeiten eines toleranten und harmonischen Zusammenlebens innerhalb einer Gemeinschaft entwickeln. Und das war für gar nicht so wenige hier oft ein richtig harter Lernprozess, bei dem sie in vielen Fällen ganz gewaltig über ihren eigenen Schatten zu springen hatten. Brachten sie eben dieses aus freien Stücken selbst nicht fertig, dann wurden sie notfalls auch gegen ihren Willen und unter dem bestimmt nicht immer angenehmen Druck der Lohenmulder Gemeinschaft letztlich dazu gebracht, über eben genau diesen eigenen egoistischen Schatten zu springen. Und das war für manch einen Mulder, ganz besonders für diejenigen von privilegierter, wohlhabender Herkunft, die von klein auf gewohnt waren, ihre Wünsche durchzusetzen wohl eine der härtesten Erfahrungen in ihrem bisherigen Leben. Grenzen aufgezeigt zu bekommen, die sich eben nicht mit einen entsprechend hohen Scheck der Eltern aus der Welt schaffen ließen. Diese erstmalige Erfahrung konnte für gewisse Mulder schon richtig brutal sein und dabei gar nicht so selten zu lautstarken Wutausbrüchen führen. Sie mussten oft erst ganz mühsam lernen, erstmals Kompromisse einzugehen, Toleranz einzuüben und gegenüber manch nervtötender Eigenschaft ihres neuen Zimmerkameraden auch ganz einfach einmal schlicht Nachsicht und Gelassenheit walten zu lassen. Für viele auch hier am Schloss ein wirklich äußerst schmerzlicher Lernprozess, der sich oft über Wochen hinzog und bei dem auch jammernde Anrufe zuhause nicht weiter halfen.
Aber letztlich rauften sich auch die erbittertesten Streithähne vom Anfang eines Schuljahres während ihres ersten gemeinsamen Trimesters auf diese Weise nahezu immer irgendwie zusammen. Was blieb ihnen denn auch sonst übrig? Und gar nicht so selten wurden sie später sogar dann doch noch wirklich enge Freunde, die oft ihr ganzes restliches Leben lang eng verbunden blieben.
So gesehen war so mancher Hausvorstand, und Herr Trietz wohl auch im ganz besonderen, dann wohl auch manchmal sogar ziemlich froh darüber, dass eine bereits eingespielte, bewährte und gut funktionierende Zimmergemeinschaft aus dem Gutshof einfach oben am Schloss fortgesetzt wurde. Das machte seine Aufgabe hier in Haus Fünf merklich einfacher. Warum denn kompliziert, wenn ’s auch einfacher geht, dachte er sich dabei wohl.
Letzte Woche am Dienstag war Tischi wie gewohnt am frühen Abend mit seinem CrossBike zu einem zusätzlichen privaten Konditionstraining aufgebrochen. » Kondi bolzen« , wie die Sportler hier und wohl auch anderswo so was nannten. In einer großen Schleife umrundete er dabei auf gut befestigten Wegen wie immer stets mehrfach Schloss, Gutshof und einen großen Teil der unmittelbar zu Lohenmuld gehörigen landwirtschaftlichen Flächen. So konnte er auf diese Weise konditionell seine Grenzen austesten, ohne dabei, wie es beim Joggen unvermeidlich gewesen wäre, zusätzlich sein nicht jeden Tag gleich stabiles und auch aufgrund eines früheren Kreuzbandrisses bereits operiertes rechtes Knie zu belasten. Das hob er sich dann für die konkreten Trainingstage im Schnee auf.
Tischi kam zurück. Verschwitzt, erhitzt und dabei trotz der hohen Trainingsintensität leicht durchgekühlt vom allabendlichen feuchten Nebel, der vom See langsam in Richtung Schloss herauf kroch. Eine wärmende Dusche im zimmereigenen Bad, über das seit einer umfangreichen Sanierung inzwischen alle Schülerräume verfügten, erschien daher angemessen. Danach eine kurze, aber ebenso intensive Ruhephase in seinem Bett. Tischi gehörte zu den beneidenswert glücklichen Zeitgenossen, die quasi auf Abruf, in beinahe jeder Situation sofort einschlafen und sich so enorm schnell wieder regenerieren konnten, sei es nun körperlich oder auch in mentaler Hinsicht.
Dann Umziehen zum Abendessen. An diesem normalen Wochentag, wie Jan im inzwischen empfindlich kühlen Innenhof näher erläuterte, war dieses damals mit nur drei Gängen relativ kurz und damit nicht so ein ganz besonderer Abend mit mindestens fünf Gängen wie er für heute vorgesehen war.
Tischi konnte kein frisches T-Shirt mehr finden. Frisch geduscht wollte er aber auch kein verschwitztes, eigentlich schon aussortiertes T-Shirt aus seinem Wäschesack unter dem offiziellen Schulpullover anziehen. Ein Hemd unter dem Pullover war ihm dagegen einfach zu warm. Immer noch aufgeputscht vom Crosstraining würde er wohl mit ziemlicher Sicherheit wieder zu schwitzen
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