Das Land jenseits des Waldes, Band I
vorgeschrieben und üblich, um Manipulationen mit eingeschmuggelten fremden Urin auszuschließen nur in seiner Unterhose. Vorsichtig setzte Tischi sich dort auf einen dieser billigen Plastikklappstühle. Dann brach er weinend zusammen.
In seinen letzten Stunden in Lohenmuld kümmerte sich niemand mehr um Tischi. Nicht die Schüler am Schloss, nicht die Erzieher, nicht die Lehrer. Nicht einmal die Putzfrau. Man ließ ihn einfach auf dem Flur flennen. Er war ja jetzt schließlich auch kein Mulder mehr. Persona non gratis, wie Jesse Pinkman es einst so formvollendet formuliert hatte. Aber nicht mal für viel Geld hätte an jenem Abend noch irgendjemand mit ihm geredet. Die Putzfrau, die vor dem Labor pflichtbewusst um ihn herum wischte, die am allerwenigsten.
Nach dem Lichtlöschen schleppte er sich dann unbeobachtet nach oben. Herr Trietz hatte in dieser Nacht immerhin die Eingangstüre zu Haus Nummer Fünf und auch Tischis Zimmertür nicht, wie sonst üblich abgeschlossen. Als Nicht-mehr-Mulder hätte Tischi sonst wohl womöglich halbnackt irgendwo im Flur und auf dem Boden schlafen müssen. Im Zimmer zog sich Tischi, nachdem er zuvor noch ausgiebig gepisst hatte, dann schnell ein paar wärmende Sachen an, warf danach einige wenige Habseligkeiten in eine kleine Umhängetasche und legte sich dann schließlich schon voll angezogen mitsamt Schuhen und Jacke auf sein Bett.
Jan hielt es für besser, ihn in dieser, seiner letzten Nacht am Lohenmulder Schloss nicht mehr anzusprechen und tat so, als schliefe er bereits tief und fest. Eine dreiste Verstellung. Das wussten sie beide. Dafür kannten sie sich einfach zu gut und zu lange. Aber sie würden sich ja eventuell in den Weihnachtsferien sehen und sich dann unter besseren Umständen als heute Nacht austauschen können. Und, sie beide wussten, es war wohl besser so.
In dieser Nacht flennte Tischi dann nicht mehr, aber er atmete unruhig und schien keinen wirklichen Schlaf finden zu können.
Gegen halb fünf Uhr morgens kam Herr Bulkovic ins Zimmer. Er sollte Tischi im schlosseigenen Kleinbus zum Frühzug nach Königshofen fahren. Auch er sprach nicht. Wortlos ging er mit Tischi hinaus. Jan hörte von der frühen Stunde benebelt, wie die Türe zu Haus Nummer Fünf leise zuklickte. Seither hatte er Tischi nicht mehr gesehen und ihn auch nicht mehr gesprochen. Und er fühlte sich dabei genau so mies wie fast alle anderen Mulder hier im Schloss.
09 Nicholas Hofer
»S o komm. Nimm du den allerletzten Zug«, sagte Jan unmittelbar bevor er die Reste seiner Zigarette auf den Fließen im Innenhof austreten wollte. Knars zögerte kurz, während er durch die trüben Glasscheiben sah, wie sich bereits einige der Mulder von Haus Nummer Fünf auf den Weg hinunter in den Speisesaal machten. Ein offizieller Termin. Wie Unterricht. Anwesenheitspflicht. Dabei winkten sie Jan leicht verschwommen zu und deuteten auf die Armbanduhr an ihrem Handgelenk. Jan winke mit der Hand ohne Zigarette zurück. Knars blickte zurückhaltend aber dabei doch irgendwie unsicher hinunter auf den Boden. Jetzt nur nichts falsch machen und womöglich wieder unangenehm auffallen.
»Jetzt nimm schon«, versuchte Jan Knars als vollständigen Nichtraucher zu überzeugen. »Glaub mir. Du wirst in den nächsten Wochen hier einen Freund echt wirklich gut gebrauchen können.« Dieser letzte Satz war überzeugend. Und so zog Knars an Jans abgerauchter Zigarette bis das Feuer schließlich den Filter erreichte.
»Grosse Güte«, Knars musste sofort heftig husten. »Was ist denn das für ein Zeug?«
»Import. Russisch.« Jan grinste. Raucher mussten sich hier in Lohenmuld ihr Laster selbst finanzieren. Und das schien wie gerade in Jans speziellen Fall schon ganz gehörig ins Geld zugehen.
Knars stutze. Die Packung in Jans Hosentasche sah dabei doch fast genau so aus wie die berühmte amerikanische Marke mit dem großen Wüstentier. »Ich hoff ja bloß, dass du davon kein positives Testergebnis kriegst«, witzelte er dann.
»Dann nimm mich ruhig als Bioindikator «, antwortete Jan. »Seit ich darauf umgestiegen bin, bin ich insgesamt fünf Mal von Rechenberg ausgelost worden.«
»Und da du immer noch hier bist«, schlussfolgerte Knars mit der ganzen Schärfe seines jugendlichen Verstandes und gab Jan die Reste seiner Zigarette zurück, »brauch auch ich mir keinerlei Sorgen zu machen?«
Jan nickte und trat die Zigarette auf dem Boden aus. Nur im Schulpullover war ihnen hier im Innenhof nun wirklich kalt
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