Das Land jenseits des Waldes, Band I
geworden. So schlossen sie sich zügig den restlichen Muldern von Haus Nummer Fünf an, die nun schnellen Schrittes dem Speisesaal zustrebten. Auf dem Weg dorthin wurde Knars von seinen neuen Hauspartnern höflich und freundlich korrekt zugenickt, während ihm Jan einige von ihnen auch mit ihrem Namen vorstellte. Namen, Buchstaben, die Knars aber in der sich nun allgemein ausbreitenden Hektik schon nach wenigen Minuten wieder vergessen hatte und der entsprechenden Person dann nicht mehr zuordnen konnte. Das würde wohl noch einige Tage länger in Anspruch nehmen.
Zunächst versammelten sich die Mulder aller Häuser am Schloss in einen großen Raum unmittelbar neben dem Speisesaal. Cocktail Quarter. Eine viertelstündige Veranstaltung unmittelbar vor dem anberaumten Dinner. Smalltalk, ödes Geschwafel und sinnfreies Gelaber mit einem Cocktailglas in der Hand, auch wenn es in diesem Fall anstelle von Champagner nur mit einer perfiden Mischung aus Apfelsaft und Mineralwasser mit reichlich Kohlensäure gefüllt war. Ein wichtiger Bestandteil der ganzheitlichen Erziehung hier in Lohenmuld. Die Mulder trugen zu dieser Gelegenheit alle ihren offiziellen Schulpullover, meist über einem Hemd, viele dabei mit aufgestelltem Kragen. Von den Schülern hatte nur Lars als Schloßsprecher eine Krawatte in den offiziellen Schulfarben angelegt, die jedoch schon weit oben wieder unter seinem Pullover verschwand.
Anwesend waren auch alle jeweiligen Hausvorstände und diejenigen Lehrkräfte, die unmittelbar im Schloss lebten. Man trug Sakkos zur Krawatte in den Schulfarben. Mit Ausnahme von Frau Doktor Rottvogel. Die trug ihr schlichtes zeitloses Kostüm voll von farbloser Eleganz, das sie immer trug und das zu einer jeden Gelegenheit zu passen, respektive sich einem jeden Anlass immer wieder aufs Neue anzupassen schien.
Tief ins Gespräch vertieft mit Herrn Trietz stand Herr Doktor Schmitt, der Hausvorstand von Haus Nummer Eins und gleichzeitig Schloßvorstand , vorne am Fenster.
»Der Scharfgescheitelte «, sagte Jan und deutete auf Doktor Schmitts stets akkurat gekämmte Frisur. »Oder der scharfe Gescheite . Bei dem Typ sitzt sogar frühmorgens um halb sechs schon die Krawatte perfekt und passt farblich zum Sakko. Immer! Wir können froh sein, dass wir da unseren Herrn Trietz haben.«
Knars stieß seinen Blick umherschweifen. An der Seite neben der Fensterfront blickte Frau Doktor Rottvogel versonnen auf eines der zahlreichen alten Ölgemälde. Und, er konnte es kaum fassen, sie zündete sich dabei gerade genüsslich eine Zigarette an. So viel zum strikten Rauchverbot in allen Räumen hier im Schloss.
»Es gibt auf der ganzen Welt nur zwei Personen, die in diesen heiligen Hallen ganz offiziell rauchen dürfen«, erläuterte Jan. »Zum einen Frau Doktor Rottvogel, weil sie hier schon immer geraucht hat. Seit sie hier vor vielen, vielen Jahren zu unterrichten begonnen hat. Das waren noch lichtere Zeiten, als man auch in diesem heiklen Fall hier noch tolerant zu einander und menschenfreundlich war. Und zum anderen Professor Schmidt, wenn er hierher besuchsweise zu einem Vortrag oder Empfang kommt.«
»Wer?« fragte Knars, der mit diesem Namen nichts anfangen konnte.
»Herr Professor Schmidt, der frühere Bundeskanzler dieses unseres Landes«, erklärte Jan geduldig indem er jedes Wort behutsam in die Länge dehnte. »Ein sehr sympathischer Mann. Kettenraucher und inzwischen über neunzig Jahre alt.«
Knars hatte diesen Namen in diesem Zusammenhang noch nie gehört. Der Mann musste wohl irgendwann in sehr grauer oder gar dunkelschwarzer Vorzeit sein Amt bekleidet haben. Dennoch nickte er. Es musste ja nicht gleich jeder hier mitbekommen, dass er bis letzte Woche noch an einer dieser staatlichen Lernfabriken mit übervollen Klassen und frustrierten Lehrern unterrichtet worden war.
»Darf ich sie mit Konstantin Westerholdt bekanntmachen«, sagte Jan daraufhin zu Frau Doktor Rottvogel.
Frau Doktor Rottvogel wechselte daraufhin ihre brennende Zigarette von der rechten in ihre linke Hand. »Der Nachfolger vom jungen Tischendorf ?« fragte sie mit ihrer typischen zischelnden Stimme und reichte Knars ihre rechte Hand. »Und? Westerholdt, müssen wir uns hier irgendwelche Sorgen um dich machen?«
Knars schüttelte beherzt den Kopf. »Nein. Ich glaub nicht. Jetzt nicht mehr.«
»So?« erwiderte Frau Doktor Rottvogel. »Das wird sich dann erweisen, wenn die Zeit weiter fließt. Ich denke aber einfach mal, dass unser Jan hier
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