Das Land jenseits des Waldes, Band I
in der nächsten Zeit ein Auge auf dich haben wird. Das ist doch so, oder?«
Jan nickte und beide gingen sie wieder in die Mitte des Raums.
»Was zur Hölle raucht diese Frau denn da?«, fragte Knars, der sich die ganze Zeit über gerade vorhin extrem beherrschen musste, um keinen Niesanfall zu bekommen.
» Oriental Spécial «, antwortete Jan. »Eine legendäre Marke. Die hat damals schon Thomas Mann geraucht. Und der wurde immerhin über achtzig Jahre alt. Dem sein jüngster Sohn war hier bei uns vor vielen Jahren übrigens auch mal Schüler. Wenn auch nur relativ kurz.«
»Ah ja?« murmelte Knars vor sich hin und tat so, als müsse er die in seinem Gedächtnis abgespeicherten Namen neu ordnen.
»Thomas Mann. Der Nobelpreisträger«, versuchte Jan seinem neuen Zimmerkameraden auf die Sprünge zu helfen.
So sehr sich Knars auch bemühte, er konnte sich nicht erinnern diesen Namen jemals bewusst gehört zu haben. Dennoch nickte er wissend, es brauchte ja nicht schon wieder offensichtlich werden, dass er gerade eben noch an einer dieser staatlichen Lernfabriken gewesen war, in denen ständige Überfüllung und permanenter Nervenkrieg an der Tagesordnung waren.
»Frau Doktor Rottvogelleitet hier den Anglistik Fachbereich«, sagte Jan dann. »Die ist hier eine Institution. Nicht wegzudenken. Schon mein Vater hat bei ihr sein mündliches Abitur gemacht. Und das ist immerhin länger als dreißig Jahre her.«
»Wann gehen hier in Lohenmuld denn üblicherweise die Lehrer in den Ruhestand?« fragte Knars leise.
»Also normalerweise mit fünfundsechzig«, sagte Jan und nahm sich ein zweites Glas von der Anrichte. »Normalerweise.«
»Und wie lange ist Frau Doktor Rottvogel schon fünfundsechzig?« hakte Knars vorsichtig nach.
»Schon eine ganze Weile, glaube ich«, antwortete Jan. »Ohne ihr Parfüm riecht die ja fast schon nach Verwesung«, fügte er dann mit einem schelmischen Grinsen an.
Knars musste sich nun schon ein bisschen ziemlich zusammenreißen, um nicht zu lachen. Das war aber gar nicht nett von Jan. Überhaupt nicht. Obwohl es die Sache relativ prägnant auf den Punkt brachte. Denn Frau Doktor Rottvogel zählte mit vergleichsweise hoher Sicherheit zu denjenigen Intellektuellen hier im Lohenmulder Lehrerkollegium, die wohl niemals richtig jung waren, wohl nicht einmal als Schüler oder Studenten. Die dann andererseits ab einem gewissen Zeitpunkt aber auch nicht wirklich alt wurden, sondern einfach sie selbst blieben, während die Zeit scheinbar über sie hinweg floss.
Knars hingegen fühlte sich in diesem Moment ziemlich jung. Und er war ja schließlich auch nicht zuletzt gerade deswegen nach Lohenmuld gekommen, weil bei ihm zu Hause niemand war, mit dem er genau eben dieses Jungsein teilen konnte.
Frau Doktor Rottvogel hingegen schien überhaupt niemals jung gewesen zu sein, wohl schlicht und einfach auch deswegen nicht, weil überhaupt nie jemand da gewesen war, der das Jungsein mit ihr hätte teilen wollen. Bestimmt wäre auch sie gerne glücklich gewesen, wenn sie augenscheinlich nicht schon in ihrer eigenen Vergangenheit ertrunken gewesen wäre.
Man darf also nicht nur träumen, man muss auch etwas tun, dachte sich Knars und fühlte sich trotz aller Zweifel, die sich ihm den ganzen Tag über hier genähert hatten, in seiner Entscheidung bestärkt, die kurzfristige Chance auf einen Platz hier im Schloss ergriffen zu haben.
Drüben vor dem Ölbild unterhielt sich Frau Doktor Rottvogel zwischenzeitlich intensiv mit ihren Kollegen Doktor Waldfogel. Fogel mit »F«. Chef des Fachbereichs Romanistik hier in Lohenmuld. Ein ernsthafter Herr mit dicker Brille. Soweit Knars es verstehen konnte, wetterte er gerade gegen den inflationären Gebrauch seiner französischen Sprache hier am Schloss. Jeder Schnösel hängte sich mittlerweile französischsprachige Schilder an die Tür, womöglich nicht einmal richtig geschrieben, nur weil es besser klang und was her machte. Neuestes Beispiel Herr Doktor Schmitt, Hausvorstand von Haus Nummer Eins und Schloßvorstand, neuerdings auch ganz elegant Maître d’ Chateau gerufen . Mit Spannung wartete Doktor Waldfogel schon auf die heutige Speisekarte und welche orthographischen Böcke der Küchenchef von Schloss Lohenmuld heute wieder darin abgeschossen haben würde.
Bevor er jedoch auch noch dazu kam, diejenigen unter seinen geschätzten Kollegen zu verdammen, die sich neuerdings wunderbare Werke aus dem Louvre in billigen verramschten Kopien an ihre Bürowände
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