Das Land jenseits des Waldes, Band I
Schulpullover aus ihrer Tüte hervor, die sie hinter sich an Lars weiterreichte.
»Doch um so erfreulicher ist es«, fuhr sie dann fort, »dass wir für den nun freien Platz so kurzfristig einen in allen Belangen bestens geeigneten neuen Schüler gewinnen konnten. Herzlich willkommen bei uns im Schloss Lohenmuld, Konstantin.«
Knars stand auf und reichte Frau Professor Wechselberger seine Hand, als sie ihm den Pullover überreichte. Auch hier klatschten die anderen Mulder. Freundlich und höflich .
Jan klopfte Knars ans Hosenbein und bedeutete ihm so, dass er seinen neuen Pullover nun gleich auch übers Hemd ziehen müsse.
Knars nickte. In der verstärkten Halsnaht waren kunstvoll die Initialen » AT « eingestickt. Es handelte sich also um Tischis ehemaligen Schulpullover, genau den, den er in der letzten Woche so schmachvoll hatte abgeben müssen. Er passte wie angegossen. Perfekt. Wieder klatschten alle Anwesenden freundlich. Korrekt und mit höflichen Respekt.
Knars bedankte sich nun, genauso wie Jan es mit ihm vorher im Zimmer durchgegangen war, für die große Chance, die ihm hier so unerwartet zu Teil geworden war. Er dankte dem Stiftungsrat, er dankte Frau Professor Wechselberger und er dankte vor allen anderen auch den ganzen anderen Muldern , die ihn hier heute so freundlich aufgenommen hatten. Das war zwar gelogen. Zumindest teilweise. Aber egal. Kurz und höflich. Bescheiden bleiben. Nicht dick auftragen. Wenn nötig etwas die Wahrheit verbiegen. Das passte schon.
Als Frau Professor Wechselberger ihre leere Tüte ergriff und sich anschickte, den Saal wieder zu verlassen, erhoben sich erneut alle von ihren Plätzen. An dieses Verhalten musste sich Knars wirklich erst noch gewöhnen. Aber wenn man vielleicht erst einmal einige Zeit hier war, fiel einem das vielleicht gar nicht mehr weiter auf. Gut möglich.
Lars nutze die Gelegenheit und läutete mit seiner kleinen silbernen Glocke das Ende der Schweigezeit ein. So war auch die für ihn wohl augenscheinlich unangenehme und möglicherweise mit persönlichen Peinlichkeiten behaftete Diskussion darüber, warum der Entwender der Telefonkarte weiter im Dunkeln bleiben durfte, erst einmal bis auf weiteres vertagt.
Während das Dessert serviert wurde, gab es hinter vorgehaltener Hand viel Gegrummel und Gezischel unter den Muldern .
Der Neue, so konnte man verstehen, wenn man ganz genau hin hörte, müsse sich Tischis Pullover erst noch verdienen, man empfand ihn trotz seines höflichen, ja fast schon demütigen Auftritts gerade, eben doch irgendwie als Eindringling. Als einen jener hier ungeliebten Quereinsteiger, die sich nach Lohenmuld hineingeschleimt hatten.
Nach dem Essen versammelten sich einige Mulder nochmalsim großzügigen Salon neben dem Speisesaal. Levin aus Haus Nummer Zwei, einer der jüngsten Mulder hier am Schloss,setzte sich dort spontan an den Baldwin Flügel und begann improvisiert die Solostellen des Rondo Vivace aus dem Klavierkonzert N° 1 in E-Moll, op. 11 von Frédéric Chopin zu spielen. Erst ganz vorsichtig. Dann mit sich immer mehr steigernder Intensität.
»Ausnahmetalent«, kommentierte Jan kurz und knapp und ohne jeden Anflug von Neid, während er an seinem Portweinglas nippte, das er unerlaubterweise vom Speisesaal durch die doppelte Flügeltüre mit hinüber genommen hatte.
Wie ein Hauch abendlicher Tau im beginnenden Frühsommer durchzog die Musik die geöffneten Zimmerfluchten in Schloss Lohenmuld. Weihrauch im nasskalten Herbst. Gepaart mit dem Geschmack der Sonne Portugals. Diese Musik, die konserviert stets so langweilig und öde klang, entwickelte hier direkt am Ort und Zeitpunkt ihres Entstehens in der erlebten Gemeinschaft eine für Knars bis dahin ungeahnte Kraft und Intensität. Dieser schmächtige, eigentlich völlig unscheinbare Junge dort drüben am Klavier schien mit der zunehmenden Tiefenwirkung seines Spiels, die Fähigkeit zu entwickeln, gar die Geister hier im Schloss zu bannen. Die der anwesenden Lebenden. Und die der Toten.
10 Zimmer 05002
S chwungvoll warf sich Jan auf sein Bett. Knars wollte es ihm gleichtun, doch auf seinem Bett lag aufgetürmt noch das ganze Zeug, das er vorhin einfach aus seiner blauen asics Tasche dort hingeleert hatte.
Beide mussten grinsen. Vorher nach dem Dinner hatte Levin, ein ganz besonders talentierter Mulder aus Haus Nummer Zwei , noch ganz wunderbar und für alle tief unter die Haut gehend am Flügel etwas von Frédéric Chopin gespielt. Nach einer kurzen
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