Das Land jenseits des Waldes, Band I
Pause köstlicher Stille, in der die Musik fast in der ganzen Schlossetage noch nachzuhallen und in der insbesondere Frau Doktor Rottvogel fast schon Tränen in den Augen gehabt zu haben schien, gewann dann urplötzlich Levins jugendliche Energie die Überhand über den Künstler Levin und er hämmerte ganz im Stile von Andy McMahon denKlavierpart von »If You C Jordan« in die Tasten. Einen Song über Mobbing unter Schülern, plötzliche Gewaltausbrüche und verdrängte Gefühle.
Im letzten Refrain sangen die Eingeweihten, überwiegend Mulder aus Levins Haus, rund um den Flügel aufgestellt dann alle lauthals die Zeilen
»Fuck you Jordan, fuck you Jordan.«
Aber was hieß schon singen, eigentlich grölten sie es mehr, auch wenn an diesem Abend ja gar nicht viel Alkohol im Spiel war.
Und noch mal.
»Fuck you Jordan, fuck you Jordan
He makes me sick, He makes me sick
High school's over, high school's over
I don't care if you dye your hair
you'll always be a little red-head bitch!«
Als Levin, der eigentlich als sensibel und umsichtig Bekannte, am Ende auch noch total enthemmt wie Andy McMahon im Finale eines seiner Konzerte auf den edlen Flügel klettern wollte, sah sich Frau Doktor Rottvogel genötigt einzugreifen und Levin und die anderen urplötzlich durchgeknallten Jungs von Haus Nummer Zwei unverzüglichzurück auf ihre Zimmer zu schicken.
»Ihr könnt jetzt alle gehen. Zum Bereuen ist es jetzt bereits zu spät.«
Insgeheim aber, das war deutlich zu merken, hatte sie den spontanen Ausbruch jungenhafter Kraft voll von Energie und Unverschämtheit in vollen Zügen genossen. Es war irgendwie so, als wäre sie gerade selbst für einen kurzen Moment wieder aus dem Meer ihrer eigenen Vergangenheit aufgetaucht. In eine Welt hinein, die sie selbst vor vielen Jahrzehnten so nie richtig kennen gelernt hatte. Sie wollte ja träumen. Aber es war zu lange schon viel zu spät, um auch wirklich etwas dafür tun zu können.
Knars hatte zwischenzeitlich damit begonnen, das Durcheinander auf seinem Bett zu sortieren. Sachen, die besser auf einen Bügel gehängt wurden, auf die eine Seite. Kleinere, weniger knitteranfällige Kleidungsstücke auf die andere Seite. Insgesamt hatte das Zimmer drei doppelflüglige Kleiderschränke in einer riesigen Schrankwand, die einen Bereich mit zwei Waschbecken vom eigentlichen Zimmer abtrennte. Diese beiden Waschbecken waren vor vielen Jahren in einer ersten Renovierung eingebaut worden und stammten damit noch aus einer Zeit, als die Schülerzimmer nicht mit eigenen Badezimmern ausgestattet waren. Bei der umfassenden Sanierung vor einigen Jahren hatte man diesen ursprüngliche Waschbereich jedoch belassen und das war irgendwie auch ganz praktisch. Denn obwohl die Mulder hier am Schloss so gut wie keine und die Zimmerkameraden untereinander schon gleich überhaupt gar keine Geheimnisse voreinander hatten, gab es aber doch hin und wieder manchmal Momente, wo auch ein Mulder einfach einmal ungestört sein musste und die Badezimmertüre hinter sich abschloss. So standen dem Ausgesperrten dann immerhin noch die zwei alten Waschbecken zur Verfügung, wenn beispielsweise morgens die Zeit zum Zähneputzen knapp wurde.
Knars ging nach vorne zur Zimmertür und bog nach rechts in die schmale Gasse zwischen den alten Waschbecken und der Schrankwand ein, deren Doppeltüren sich in Richtung der Waschbecken öffneten.
Jan rief ihm vom Bett aus zu, dass der mittlere Schrank ihm gehöre. Schon immer. Davon solle er bloß seine Finger lassen. So entschied sich Knars für den Schrank links davon direkt an der Wand. Doch auch hier war noch reichlich Zeug eingeräumt beziehungsweise eingehängt. Und ein ziemliches Durcheinander.
»Restliches Zeug noch vom Tischi«, erklärte Jan, als er Knars aufstöhnen hörte. »Er hat bei seinem pfeilschnellen Abgang letzte Woche ja nur noch seine Umhängetasche mitgenommen.«
Wie zur Bestätigung krachte daraufhin ein in den Schrank hineingezwängter Rollkoffer nach vorne auf den Fußboden. Knars konnte sich gerade noch mit einem beherzten Sprung auf die Seite retten, sonst hätte Schloss Lohenmuld einen weiteren verletzten Sportler mehr unter den ganzen Nichtsportlern zu beklagen gehabt.
»Nimm den rechts von der Mitte !« erarbeitete Jan derweil einen analytisch fundierten Lösungsansatz für das Schrankproblem. Jan war zwar ein rauer Bursche, aber doch im Grunde irgendwie gutmütig. Und so entschloss sich Knars, den rechten Schrank zu
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