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Das Land zwischen den Meeren

Das Land zwischen den Meeren

Titel: Das Land zwischen den Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Paredes
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die Sohle bereits erste Löcher auf.
    Der Geruch nach Tabak und Sandelholz stieg ihr in die Nase. Angenehm würzig und dennoch nicht zu schwer. Sie blinzelte zur Seite und bemerkte neben sich einen dunkelhaarigen schlanken Mann mit einem schmalen Oberlippenbart. Sein ebenmäßiges Profil erinnerte sie an die Statuen griechischer Dichter und Herrscher, wie sie sie aus den Folianten im elterlichen Bibliothekszimmer kannte. Die Kleidung war der neuesten französischen Mode entsprechend schmal und auf Taille gearbeitet, eine gelungene Kombination aus feinstem Tuch und höchster Schneiderkunst. Der Mann war einen Kopf größer als sie, mochte etwa Mitte dreißig sein. Er hatte Dorothea gar nicht wahrgenommen, sondern richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf einen Kunden, einen jungen Mann, der mit gelangweilter Miene im Laden cognacfarbene Reitstiefel anprobierte.
    Dorothea befiel eine unerklärliche Unruhe. Um sich abzulenken, heftete sie den Blick auf ein Paar dunkelbrauner Schnürstiefeletten mit zierlichem, nach unten hin breiter werdendem Absatz. Schuhe, die zwar hübsch anzusehen, aber leider nicht für die unbefestigten Wege in der Siedlung San Martino geeignet waren, die je nach Wetterlage entweder staubig oder schlammig waren. In der blank geputzten Fensterscheibe gewahrte sie das Spiegelbild zweier Personen. Ihres und das des fremden Mannes.
    Dieser wandte sich wortlos um, schlenderte auf die Straße zu und schaute gedankenverloren in die Ferne, in Richtung des hoch aufragenden Vulkans, dessen oberes Drittel von dicken weißen Wolken verhüllt war. Offenbar bemerkte er das Fuhrwerk nicht, das ohne Kutscher und viel zu schnell um eine Straßenecke raste. Das Pferd galoppierte die abschüssige Straße hinunter, während der Karren hinter ihm gefährlich nach links und rechts schwankte. Einige Passanten schrien auf und brachten sich in Hauseingängen in Sicherheit. Ein halbwüchsiger Junge fand gerade noch rechtzeitig hinter dem Stamm einer Palme Deckung. Noch immer stand der Mann wie angewurzelt da, schien nichts zu hören und erkannte ganz offensichtlich die drohende Gefahr nicht.
    Das Gefährt kam näher und näher, das Getrappel der Hufe klang wie ein Trommelwirbel. Dorothea sah die wehende Mähne des Pferdes, die hervorquellenden, rot unterlaufenen Augen, die weiten Nüstern und wie das Tier sich gegen den Widerstand des Geschirrs aufbäumte. Ein lautes Knacken ertönte, als ob Holz zerbärste, dann stürmte das Pferd mit triumphierendem Wiehern allein weiter, während der Karren sich schräg zur Seite neigte und ungebremst weiterrollte, ein Rad auf dem Boden, das andere in der Luft.
    Dorothea erkannte, dass es zu spät war, den Mann zu warnen. Ohne nachzudenken, warf sie sich nach vorn, fasste mit beiden Händen nach den Rockschößen des Fremden und riss ihn mit einem Ruck zurück. Dabei stolperte sie und fiel zu Boden. Der Mann verlor ebenfalls das Gleichgewicht und stürzte halb über sie. Nur wenige Fingerbreit von seiner Stiefelspitze entfernt landete das schwere Gefährt mit ohrenbetäubendem Krachen auf dem Boden.
    Der Mann blieb eine Weile reglos und mit verdrehtem Oberkörper liegen, und Dorothea wusste nicht, ob er sich verletzt hatte. Vorsichtig zog sie die Beine unter seinen Knien hervor, wollte sich aufrichten. Da spürte sie unter den Ellbogen kräftige Arme, die ihr aufhalfen.
    »Señorita, Señor, ist Ihnen etwas passiert?« Es war die erschrockene Stimme des Schusters, der vom Lärm vor seinem Laden aufgeschreckt worden war und herausgelaufen kam. Weiter unten, am Ende der Straße, war das ängstliche Wiehern des Pferdes zu hören, das mutige Burschen endlich aufgehalten hatten.
    Eine ältere Indianerin in einem farbenprächtig gewebten Gewand, die die Szene aus einiger Entfernung beobachtet hatte, humpelte mit ihrem Gehstock herbei und bekreuzigte sich. »Heilige Mutter Gottes! Mir ist fast das Herz stehen geblieben. Wäre die Señorita nicht gewesen, dann hätte es einen Toten gegeben.«
    Der Mann stand auf, klopfte sich den Staub aus der Kleidung und griff nach seinem Zylinder, der ihm beim Sturz vom Kopf geflogen war. In seinen Augen sah Dorothea noch den Schrecken über das soeben Erlebte. Aber dann entdeckte sie so etwas wie Staunen, als er ihr unverwandt in die Augen blickte und sie zum ersten Mal bewusst wahrzunehmen schien.
    Mittlerweile waren einige kräftige Männer herbeigeeilt, die die schwere Karre aufrichteten. Danach kommentierten sie gestenreich die gerade noch abgewendete

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