Das Land zwischen den Meeren
Gefahr und bedachten die Retterin mit achtungsvollen Blicken. Der Unbekannte ergriff Dorotheas Hände und drückte sie sanft und nachdrücklich.
»Ich weiß gar nicht, wo ich mit meinen Gedanken war, Señorita … Ohne Sie läge ich jetzt unter diesem Karren. Sie haben mir das Leben gerettet.«
Seine Stimme war warm und klar, und wenn er lächelte, zeigten sich Fältchen in seinen Augenwinkeln. Sie hätte es gern gezeichnet, dieses ebenmäßige Gesicht mit dem dichten schwarzen Haar, das bis knapp zu den Ohrläppchen reichte, die dunkelblauen Augen und die kräftigen, lang gezogenen Brauen. Und sie mochte auch sein Lächeln, bei dem ein Schneidezahn sichtbar wurde, der eine Winzigkeit kürzer war als die ansonsten gleichförmige Zahnreihe. Eine kaum erkennbare Unregelmäßigkeit, die aber dem vollkommenen Aussehen etwas Lebendiges, Liebenswertes verlieh. Dorothea zitterte immer noch, obwohl die unmittelbare Gefahr vorüber war.
»Ich stand nur zufällig an der richtigen Stelle, Señor …« Und dann bemerkte sie, dass nicht nur ihr ganzer Körper, sondern auch ihre Stimme zitterte.
»Mein Name ist Antonio Ramirez Duarte. Darf ich erfahren, wie mein Schutzengel heißt?«
»Dorothea Fassbender.«
»Dann stammen Ihre Vorfahren vermutlich aus der Schweiz, Señorita.«
»Nein, ich komme aus Deutschland. Ich lebe seit einem Jahr in Costa Rica.«
»Aber Ihr Spanisch ist nahezu akzentfrei. Wer hat Ihnen das beigebracht? Ah, Ihr Ehemann ist wohl ein Einheimischer. Aber dann müssten Sie eigentlich einen anderen Namen tragen …«
»Ich bin nicht verheiratet.« Dorothea hielt dem Blick des Unbekannten stand und fragte sich, was in sie gefahren war, mit ihm über derart persönliche Belange zu sprechen, noch dazu mitten auf der Straße.
Als sie sich gerade eine Plaudertasche schelten wollte, kam Karl Reimann vorgefahren und ließ Amanda am Straßenrand anhalten. Antonio Ramirez Duarte half ihr in den Einspänner.
»Verraten Sie mir noch, wo Sie wohnen?«
»In der Siedlung San Martino. Leben Sie wohl, Señor.«
»Auf Wiedersehen, Señorita Fassbender.«
Das Grüppchen, das vor dem Schuhladen stehen geblieben war, zerstreute sich langsam. Als ihr Kutscher die Stute antraben ließ, hörte Dorothea, wie einige Männer hinter ihr herriefen. »Bravo, Señorita!«
»Was ist denn passiert?«, wollte Karl Reimann erstaunt wissen.
»Das erzähle ich Ihnen am besten während der Fahrt.«
Drei Tage später brachte ein Laufbursche Dorothea einen Brief, der einen schwachen Duft verströmte – den von Tabak und Sandelholz. Sie öffnete das Siegel und las mit klopfendem Herzen die Zeilen, die ihr das Blut in die Wangen trieben.
Sehr geehrte Señorita Fassbender. Ich kann Ihren Mut gar nicht genug bewundern, mit dem Sie mich vor dem sicheren Tod bewahrt haben. Ich würde mich gern erkenntlich zeigen und lade Sie am kommenden Sonntag zum Essen bei mir zu Hause ein. Meine Familie brennt darauf, Sie kennenzulernen. Ich werde Sie um halb zwölf in der Siedlung San Martino abholen. Bitte geben Sie dem Burschen Ihre Antwort mit, die hoffentlich Ja lauten wird.
In der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen verbleibe ich mit vorzüglicher Hochachtung.
Antonio Ramirez Duarte
Der junge Indio wartete geduldig lächelnd. Dorothea wusste nicht, wie lange sie stumm und mit hochrotem Kopf dagesessen hatte. Sie schwankte zwischen Freude und Zweifel. War es angebracht, die Einladung anzunehmen? Oder war es schicklicher, sie abzulehnen? Señor Ramirez Duarte schrieb von seiner Familie. Also war er vermutlich verheiratet, und sie würde Frau und Kinder kennenlernen. Doch würde sie mit einer Zusage auch nicht ihren Ruf aufs Spiel setzen? Mehr als ein Jahr lang hatte sie fast wie in einem Vakuum gelebt. Zwischen Verkaufsraum, Lager und ihrer schäbigen Unterkunft. Ohne engere Kontakte zur Bevölkerung knüpfen zu können – mit Ausnahme von Johanna Miller. Was wusste sie eigentlich von den Sitten und Gebräuchen des Landes? Sie hatte von morgens bis abends bei Jensen gearbeitet. Andererseits schien Antonio Ramirez Duarte gebildet zu sein. Ein solcher Mann schlug ganz sicher nichts vor, was gegen die guten Sitten verstieß.
»Der Señor hat gesagt, ich darf nicht ohne eine Antwort zurückkommen«, erklärte der Bursche und blickte Dorothea fragend an.
»Dann sag ihm, ich nehme die Einladung gern an.«
Mehr als eine Stunde hatte Dorothea ihr Kleid gebürstet, bis nicht das kleinste Staubkorn mehr darin zu finden war. Sie legte den neuen
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