Das Land zwischen den Meeren
Kragen an und betrachtete sich im Spiegel. Eine schlanke junge Frau mit blassem Teint und rötlich schimmerndem Blondhaar. Nein, eine Schönheit war sie nicht, obwohl sie von vielen Seiten immer wieder hörte, wie hübsch sie sei. Aber hübsch ist etwas anderes als schön, dachte sie und schalt sich gleichzeitig, weil sie derart unangebrachte Gedanken hegte. Jemand wollte sich ihr gegenüber erkenntlich zeigen, fühlte eine Bringschuld. Welche Rolle spielte dabei ihr Äußeres? Für einen einzigen Menschen hatte sie jemals schön und begehrenswert sein wollen … Aber das lag schon lange zurück, hatte sich in einem anderen Leben zugetragen.
»Sie sehen zauberhaft aus, Señorita Fassbender. Es ist mir eine Freude, Sie persönlich abzuholen.«
Antonio Ramirez Duarte stand unvermutet in der offenen Tür. Dorothea erschrak. Er war eine Viertelstunde zu früh gekommen, sie war noch nicht ganz fertig und schämte sich ein wenig, weil er ihre bescheidene Bleibe sah. Doch er wirkte so ungezwungen und überaus höflich, dass Dorothea beschloss, ihre Skrupel zu vergessen und sich auf unbekanntes Terrain zu begeben.
Mit der einen Hand raffte Dorothea ihren Rock, mit der anderen stützte sie sich auf den ihr dargebotenen Arm und stieg aus dem Einspänner, den Antonio Ramirez mit geschickter Hand zu seinem Zuhause gelenkt hatte. Etwas so Großartiges hatte sie überhaupt nicht erwartet. Sie standen vor einem zweigeschossigen Herrenhaus, das in seinen Ausma-ßen fast schon an eine Kathedrale erinnerte. Die weiße Holzfassade wurde von Fenstern mit grünen Schlagläden unterbrochen.
Es war derselbe Farbton, den auch die sattgrünen Kaffeebäume auf den Feldern trugen, die die Hacienda umgaben und die bis zu den weiten Hügeln zu sehen waren. Sie waren am nördlichen Stadtrand von San José angekommen, dort, wo der fruchtbare Vulkanboden und das gleichmäßig milde Klima, das weder Frost noch Hitze kannte, dem Kaffeeanbau seit einigen Jahren zu besonderer Blüte verholfen hatten. Und den Plantagenbesitzern zu Reichtum und Macht, wie Dorothea aus den Gesprächen mit Johanna Miller erfahren hatte.
»Ich möchte Sie zuerst meinen Eltern vorstellen. Und wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen nach dem Essen die Hacienda.«
Antonio Ramirez geleitete Dorothea ins Haus, wo sie in der Vorhalle ein höchst ungleiches Paar erwartete. Der Mann war groß und von kräftiger Statur. Er mochte etwa Mitte sechzig sein, hatte volles weißes Haar und trug einen kräftigen Backenbart. Sein Gesichtsausdruck war ernst und lauernd, sein Händedruck so fest, als wolle er seinem Gegenüber alle Fingerknöchel brechen. Er wirkte wie ein Mensch, der es gewohnt war, Befehle zu erteilen.
Die Frau an seiner Seite war sicher zehn Jahre jünger als er. Sie hatte die Figur und Größe eines halbwüchsigen Mädchens. Ihre ganz in Weiß gehaltene Kleidung verstärkte den Eindruck des Kindlichen. Alles an ihr wirkte zerbrechlich. Trotz der faltigen, müden Gesichtszüge war ihre einstige Schönheit noch immer zu erahnen. In ihren wässrig blauen, rot geränderten Augen entdeckte Dorothea eine Mischung aus Traurigkeit und Resignation.
Der Hausherr deutete eine Verbeugung an und wies auf eine offen stehende Zimmertür. »Willkommen auf unserer Hacienda, Señorita. Es ist bereits angerichtet. Ich pflege jeden Tag um Punkt zwölf Uhr zu speisen. Nicht früher und nicht später.«
Das Speisezimmer war elegant und prunkvoll eingerichtet. Gemälde und Gobelins an den Wänden, Orientteppiche und intarsienverzierte Kommoden, funkelnde Lüster, Vitrinen mit Silbergeschirr und hauchdünnem japanischem Porzellan. Dorothea fühlte sich an ihr Zuhause in Köln erinnert. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie ebenfalls von so feinem Porzellan gegessen.
Sie ließ sich die Köstlichkeiten schmecken, die von einem Dienstmädchen aufgetischt wurden. Hühnerbouillon, mit Honig glasierte Kochbananen, gedünsteter Fisch mit Reis und grünen Bohnen und zum Nachtisch frische Melonen und Papayas mit Kokosnusskuchen. Dazu gab es starken Kaffee, den Dorothea nur anstandshalber trank. An den kräftigen, bitteren Geschmack hatte sie sich bisher noch nicht gewöhnen können. Aber sie hatte keine Mühe, in diesem vertrauten Ambiente Konversation zu machen. Darin war sie aus Zeiten geübt, als sie in ihrem Kölner Elternhaus mit den unterschiedlichsten Gästen bei Tisch gesessen hatte. Es gelang ihr sogar, den zunächst reservierten Herrn des Hauses zum Lachen zu bringen.
»Warum sind Sie
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