Das Land zwischen den Meeren
entzog sich ihr mit sanftem Druck. Enttäuscht ließ sie los.
»Dann also bis morgen früh. Schlaf gut, meine Liebe.«
»Du auch, Antonio, und arbeite nicht mehr so lange.«
Olivia lag in tiefem Schlummer in ihrem Bettchen. Dorothea lauschte eine Weile den gleichmäßigen Atemzügen. Noch immer kam ihr dieses dreieinhalbjährige Wesen wie ein Wunder vor. Ein Wunder, das sie selbst zur Welt gebracht hatte und das sie, als es noch winzig klein war, am liebsten immer nur in den Armen gewiegt hätte.
Sie kehrte in ihr Schlafzimmer zurück, das dem von Olivia unmittelbar gegenüber lag, und öffnete die beiden hohen Fensterflügel. Die Dunkelheit hatte bereits die Kronen der hohen Schattenbäume inmitten der Kaffeefelder verschluckt. Milde Abendluft strich ihr über das Gesicht. Von den Hütten der Plantagenarbeiter drangen Stimmen zu ihr herüber. Gesang zu den Klängen einer Gitarre. Sie trat auf den Balkon hinaus und hörte eine Weile zu. Es waren rhythmische, sentimentale, berührende Lieder.
Da fielen ihr unvermittelt Pedros Worte ein. Als er seinen Sohn gerügt hatte, nachdem sich Dorothea beim Essen verspätet hatte. Warum hatte er ausgerechnet die Worte »eheliche Pflichten« gewählt? Sollte das eine Anspielung sein? Was ahnte er? Was wusste er über die Beziehung zwischen Antonio und seiner Schwiegertochter? Von ihrem Zusammenleben, das diese Bezeichnung nicht verdiente?
Seitdem sie ihrem Mann von ihrer Schwangerschaft erzählt hatte, hatte er nichts mehr von ihr begehrt, als in Ruhe gelassen zu werden. Und bis zu dieser Mitteilung hatte es lediglich einige wenige und sehr beiläufige eheliche Begegnungen gegeben. Die auch nur dann stattfanden, wenn Antonio etwas getrunken hatte.
Nach Olivias Geburt hatte er sich eins der Gästezimmer eingerichtet. In den ersten Monaten, als die Kleine fieberte, hatte Dorothea darauf bestanden, dass das Kind neben ihrem Bett in der Wiege schlief und nicht bei der Amme. Antonio hingegen brauchte seinen ungestörten Schlaf. Doch auch nachdem Olivia ihr eigenes Reich mit einem Schaukelpferd und einer großen Truhe voller Spielzeug bekommen hatte, wohnte und schlief Antonio weiterhin im Nachbarzimmer. Weil er Dorotheas Schlaf nicht stören wollte, wenn er bis tief in die Nacht hinein im Schein seiner Petroleumleuchte las.
Wie oft hatte sie sich schon gefragt, warum Antonio niemals innige Zärtlichkeiten mit ihr austauschte, sondern sie nur sittsam auf Stirn, Wange oder Hand küsste, und dies meist in Gegenwart seiner Eltern. Alle ihre Versuche, mehr Hingabe einzufordern, waren gescheitert. Als sei ihm jede Berührung unangenehm, die länger als einige Augenblicke dauerte. Zwar hatte er sie schon vor der Ehe äußerst behutsam und sittsam umworben. Doch seit der Hochzeit hielt er sich noch auffälliger zurück. Dabei konnte er durchaus galant, liebenswert und aufmerksam sein. Er scherzte mit Olivia und tobte gern mit ihr herum. Aber er scheute die körperliche Nähe zu seiner Frau.
Ob sie diesen Preis für das Glück zahlen musste? Für das Glück, eine Familie zu haben, gesund zu sein, in sicheren finanziellen Verhältnissen auf einem der schönsten Flecken der Erde zu leben? Das Schicksal meinte es gut mit ihr. Sie hatte ihre Vergangenheit hinter sich gelassen, eine gefährliche Schiffsreise unbeschadet überstanden und ihr Leben neu ausgerichtet. Von den meisten Frauen wurde sie um ihren blendend aussehenden Ehemann beneidet. Was also hatte sie zu beklagen?
Und doch fühlte Dorothea einen tiefen Schmerz in ihrem Innern, wenn sie daran dachte, Antonios Körper auf die gleiche Art zu berühren, wie sie einst einen anderen berührt hatte. In ihrem früheren Leben. Sie wollte Antonios Atem spüren, seine Arme, die sie umfingen, und ihm den Kopf an die Brust legen. Sie wusste nicht einmal, ob der Oberkörper ihres Mannes behaart war. Nie hatte sie ihn völlig unbekleidet gesehen. Er wiederum schien sich nicht danach zu sehnen, sie nackt zu betrachten.
Kurz vor ihrem dritten Hochzeitstag hatte sie ihn gefragt, warum er so unnahbar sei. Ob er sie mittlerweile reizlos finde und die Heirat bedaure. Er hatte ihr heftig widersprochen, ihr mit Tränen in den Augen versichert, wie sehr er sie und Olivia liebe. Am nächsten Tag hatte er ihr ein Schmuckstück geschenkt. Einen Ring mit Diamanten und einem tiefvioletten Amethyst.
Dorothea schenkte sich ein Glas frischen Ananassaft ein, den Manuela ihr in einer ziselierten Glaskaraffe gebracht hatte. Sie trank in winzigen Schlucken,
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