Das Land zwischen den Meeren
hatte Antonio Zimmerleute kommen lassen und eine Woche später sein eigenes Reich bezogen, fernab von der übermächtigen Gegenwart des Vaters. Er hatte es nach eigenen Vorstellungen eingerichtet, mit Masken und Gemälden einheimischer Künstler an den Wänden und einem bequemen Sofa, in dem er gelegentlich seinen Mittagsschlaf hielt. Auch eine Schreibmaschine zählte zum Inventar. Ein neuartiges technisches Gerät, wie es noch keiner der Kaufleute weit und breit besaß, und das sein Vater als Spielerei abtat. Noch nie hatte Pedro einen Fuß in das Kontor seines Sohnes gesetzt, und Dorothea konnte sich nicht vorstellen, dass er sich je dazu durchringen würde.
Mit der Laterne leuchtete Dorothea den Boden des schmalen Pfades vor sich aus, um über keine Baumwurzel zu stolpern. Die Fensterläden in der Hütte waren geschlossen, doch durch die Ritzen und unter dem Türspalt schimmerte Licht. Sie zog ihr Taschentuch aus dem Ausschnitt, hielt es sich unter die Nase und sog den frischen zitronigen Duft in sich ein, als ob sie erst noch Mut einatmen wolle.
Sacht drückte sie die Klinke herunter und schob die Tür auf, blinzelte durch den Spalt, der nach und nach breiter wurde. Wie vom Blitz getroffen kniff sie die Augen zu. Öffnete sie ganz langsam und hielt die Luft an. Sie hatte sich in der Tür geirrt. Vielleicht träumte sie auch. Nein, sie hatte den Verstand verloren. Ganz plötzlich war er ihr abhanden gekommen. In diesem Augenblick. Ohne Vorankündigung.
Als sie wieder zu atmen wagte, spürte sie ihren rasenden Herzschlag von der Brust zum Hals und zu den Schläfen herauf. Wie durch einen Schleier erblickte sie zwei Menschen. Der eine saß auf dem Schreibtisch, die Beine um die Hüften eines anderen geschlungen. Beide waren in inniger Umarmung versunken, die Umrisse ihrer Körper verschmolzen zu einer einzigen Silhouette. Die Hände tasteten über Schultern, Arme und Rücken. Begierig suchten sich die Münder, wanderten weiter zu den Wangen, den Ohrläppchen, zur Halsbeuge und zurück. Diese Bewegungen zeugten von einer Kraft, aber auch von einer Zartheit, bei deren Anblick Dorothea erschauerte.
Beide nestelten an ihrer Kleidung, ließen die Jacken zu Boden fallen, zerrten sich gegenseitig die Hemden über den Kopf und pressten Lippen und Leiber mit leisem Stöhnen aneinander. Als sie sich irgendwann voneinander lösten und ihre Hände forschend und fordernd den Köper des anderen erkundeten, erkannte Dorothea den glatten, schmalen und dennoch muskulösen Oberkörper eines etwa achtzehn Jahre alten Jungen. Die Brust des älteren Mannes war kräftiger und breiter. Dunkles Kräuselhaar wuchs wie ein schmaler werdender Pfad bis zum Bauchnabel hinab.
Dorothea stieß einen stummen Schrei aus und taumelte gegen den Türrahmen. Die Laterne entglitt ihrer willenlos gewordenen Hand und polterte zu Boden. Die beiden Männer erstarrten, und sie blickte in die entsetzten Augen ihres Ehemannes.
Sie wusste nicht, welchen Weg sie genommen hatte und wie sie in ihr Zimmer zurückgekommen war. Sie warf sich bäuchlings aufs Bett, zitterte am ganzen Körper. Ihr Magen krampfte sich zusammen, und sie krümmte sich vor Schmerzen. Das Hämmern im Kopf wollte nicht aufhören. Ihre Finger klammerten sich an den Bettpfosten. Bittere Tränen durchnässten das Kissen. Sie wünschte sich inständig, nicht mehr zu sein.
»Dorothea, bitte, hör mir zu!«
Antonios verzweifelte Stimme drang an ihr Ohr. Er musste ihr gefolgt sein, und sie hatte es versäumt, die Zimmertür abzuschließen.
»Geh!«, schluchzte sie, während ihr Körper von Weinkrämpfen geschüttelt wurde.
»Ich möchte dir etwas sagen … etwas erklären. Bitte, Dorothea, nur für einen Augenblick.«
Sie schüttelte den Kopf, biss in den feinen Damaststoff des Kissens. Eine Hand legte sich zaghaft auf ihre Schulter. Sie wehrte sie heftig ab. Dann drehte sie sich langsam auf die Seite und richtete sich auf, zog ihr Taschentuch aus dem Ausschnitt. Der starke Zitronenduft reizte ihre Nase, und sie musste niesen.
»Dorothea, bitte …« Antonios Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern. »… es ist anders, als du denkst.«
»Woher weißt du, was ich denke?« Mit der bloßen Hand wischte sie sich die Tränen aus dem verquollenen Gesicht.
»Ich meine … es ist eben anders.«
»Anders als was?«
»Du bist meine Frau …«
»Gut, dass du mich daran erinnerst. Das hätte ich beinahe vergessen.« Dorothea erschrak über ihre eigenen Worte. So zynisch hatte sie noch nie
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