Das Land zwischen den Meeren
und klammerte sich an Dorotheas Kleid fest.
»Wovor hat meine süße Tochter denn Angst?«
»Weiß nicht.« Olivia zog einen Flunsch, und dann rollten ihr dicke Tränen über die Wangen.
Dorothea seufzte. Sie zog ein Taschentuch aus dem Täschchen im Kleid, trocknete der Kleinen die Tränen und putzte ihr das Näschen. In Gedanken sah sie schon die hochgezogenen buschigen Brauen ihres Schwiegervaters und seinen vorwurfsvollen Blick, wenn sie sich wieder einmal verspätete.
»Meine Liebe«, hatte er ihr letztens vorgehalten, »in diesem Haus gibt es Regeln, an die sich jeder zu halten hat. Eine dieser Regeln lautet, dass wir alle gemeinsam mit dem Essen beginnen, und zwar pünktlich.«
Sie fürchtete sich vor Pedros schnarrender, überheblicher Stimme, die so verletzend klingen konnte. Anderseits mochte sie ihre verzweifelte Tochter nicht allein im Zimmer zurücklassen.
»Weißt du was? Ich lese dir noch etwas vor, und dann schläfst du bestimmt ganz schnell ein«, schlug sie vor und hoffte inständig, dass Olivia sich rasch wieder beruhigte.
»Die Geschichte mit den kleinen Zwergen.« Erwartungsvoll ließ sich Olivia aufs Kissen zurücksinken. Dorothea sah auf die Uhr. Schon fünf Minuten Verspätung – sicher war die Suppe bereits aufgetragen worden. Sie holte ein zerfleddertes Buch in deutscher Sprache aus der Spieltruhe neben dem Bett und begann zu lesen.
»Wie war zu Köln es doch vordem / mit Heinzelmännchen so bequem …«
»Nicht so schnell, Mama … Denn war man faul …«
»… man legte sich / hin auf die Bank und pflegte sich«, ergänzte Dorothea in gemächlicherem Rhythmus die Verse. Insgeheim freute sie sich, dass Olivia ein Gedicht aus ihrer früheren Heimat hören wollte. In Gegenwart der Schwiegereltern hätte sie es nie gewagt, Deutsch mit ihrer Tochter zu sprechen. Das tat sie nur, wenn keiner zuhörte. Sie senkte die Stimme und verfiel in einen singenden, einförmigen Tonfall. Über den Rand des Buches hinweg beobachtete sie, wie Olivia schläfrig wurde und wenig später gleichmäßig und tief atmete. Vorsichtig deckte sie sie zu und schlich sich davon. So leise wie möglich schloss sie die Tür hinter sich und hastete die Treppe hinunter.
Vor der Tür zum Speisezimmer strich sie sich Kleid und Haar glatt, schob das Kinn nach vorn und drückte die Klinke hinunter. »Ich bin zu spät, es tut mir leid. Aber Olivia konnte nicht einschlafen.«
Dorothea nahm ihren Platz neben Antonio ein. Auf ihre Entschuldigung hin herrschte eisiges Schweigen. Die Schwiegereltern würdigten sie keines Blickes. Antonio sah zu ihr herüber und hob unmerklich die Schultern. Manuela trug den Hauptgang auf, und jeder aß schweigend. Mit jeder Faser ihres Körpers spürte Dorothea die Spannung, die in der Luft lag.
Oftmals hatte sie sich gewünscht, die Mahlzeiten nur mit ihrem Mann und ihrer Tochter einzunehmen. Ohne sich vorher umziehen und frisieren zu müssen, als bereite sie sich auf einen Empfang vor. Ungezwungen miteinander reden und vielleicht auch einmal lachen zu können. Doch einen solchen Vorschlag hätte sie niemals aussprechen dürfen. Pedro Ramirez Garrido war der Herr im Haus, und solange er lebte, hatte jeder sich seinen Anweisungen zu fügen. Dazu gehörte auch, dass die Erwachsenen sich morgens und abends bei Tisch versammelten.
Als das Mädchen geräuschlos den Nachtisch abgeräumt hatte, rollte Pedro seine Serviette betont sorgfältig zusammen und schob sie in den mit seinem Monogramm versehenen silbernen Serviettenring. Seine Stimme nahm den für ihn typischen schneidenden Tonfall an. »Antonio, würdest du wohl dafür sorgen, dass deine Frau sich unsere Tischzeiten merkt? Mir scheint, du kommst deinen Pflichten als Ehemann nur unzureichend nach.«
Mit diesen Worten stand er auf und entschwand in die Bibliothek, wo er sich, wie immer nach dem Abendessen, eine Zigarre anzünden und einen Cognac trinken würde. Auch Isabel erhob sich mit Leidensmiene und verließ wortlos das Esszimmer. Dorothea blickte ihrer Schwiegermutter hinterher. Seit dem Tag ihrer ersten Begegnung empfand sie Mitleid mit dieser schmalen, blassen, verhärmten Gestalt. Ein Schatten jener strahlenden jungen Frau, die auf dem Gemälde im großen Salon zu bewundern war.
»Ich muss noch einmal ins Kontor und die Abrechnungen der letzten Schiffsladung kontrollieren.« Antonio beugte sich zu seiner Frau hinunter und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Dorothea nahm seine Hand und hielt sie spielerisch fest, doch er
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