Das Land zwischen den Meeren
mit der Peitsche gegen die Flanke des Ponys, das erschrocken einen Satz nach vorn tat und davongaloppierte. »Hü, hü!«, hörte Dorothea noch, dann war Federico an einer Weggabelung hinter einer hohen Kakteenhecke verschwunden.
Obwohl er ihr Sohn war, war Federico ihr innerlich fremd geblieben. Es stand etwas zwischen ihnen, und das war Pedro, der großen Einfluss auf seinen Enkel ausübte. Er sah es als seine Aufgabe an, einen »ganzen Kerl« aus dem Jungen zu machen und ihn frühzeitig auf seine Rolle als künftiger Erbe der Hacienda Margarita vorzubereiten. Wenn Federico mit anderen Kindern aus der Nachbarschaft zusammen war, wollte er immer der Schnellste und Stärkste sein. Er bestimmte, was gespielt wurde oder wer von den Dienstboten geärgert werden sollte, und die anderen machten mit, folgten ihm blindlings aufs Wort.
Nie ließ Federico sich von seiner Mutter in die Arme nehmen, streicheln, trösten oder küssen. Wenn Dorothea ihn zu sich heranziehen wollte, machte der Junge sich steif wie ein Stock und starrte mit zusammengekniffenen Lippen in eine andere Richtung. Wollte sie mit ihm Nachlaufen spielen oder einen Baum zeichnen, fand Federico immer einen Grund, weswegen er dringend seinen Großvater in dessen Kontor besuchen musste. Obwohl Pedro nichts so sehr hasste, wie bei der Arbeit unterbrochen zu werden, erlaubte er seinem Enkel, jederzeit zu ihm zu kommen. Ja, er hatte Federico sogar ein eigenes kleines Schreibpult schreinern und gegenüber dem seinen aufstellen lassen.
Manchmal fuhren die beiden mit dem Einspänner über die Hacienda oder ließen sich nach San José kutschieren, wo sie durch den Parque Central flanierten oder sich auf eine Bank setzten und die Leute beobachteten. Einmal nahm Pedro den Kleinen sogar mit auf die Jagd. Erst kurz vor Einbruch der Dämmerung kehrten die beiden zurück und ließen sich vor dem Herrenhaus absetzen. Erleichtert lief Dorothea ihnen entgegen.
»Federico, mein Lieber, ist alles in Ordnung? Ihr wart so lange unterwegs. Ich habe mir schon Sorgen gemacht.« Sie beugte sich zu dem Jungen hinunter und wollte ihn an sich ziehen, doch Federico stieß seine Mutter brüsk zurück. Mit gewichtiger Miene steckte er die Hand in die Jagdtasche des Großvaters und zog sie langsam wieder heraus.
»Sieh mal. Das war Federico. Ganz allein.«
Seine Augen strahlten vor Stolz. Dorothea erkannte den blutenden Kadaver eines Eichhörnchens. Sie zuckte zurück, stellte sich vor, wie der Junge selbstständig mit einem Gewehr hantiert hatte. Pedros Schmunzeln entnahm sie allerdings, dass dieser wohl ein wenig nachgeholfen hatte. Trotzdem fürchtete sie, aus ihrem Sohn könne einmal ein gefühlskalter Draufgänger werden.
Federico hatte darauf bestanden, die Abendmahlzeiten gemeinsam mit den Großen einzunehmen und erst danach ins Bett zu gehen. Pedro ließ ihn gewähren, was er bei Olivia, als sie im gleichen Alter gewesen war, niemals geduldet hätte. Als Dorothea ihren Mann darauf ansprach, dass Pedro dem Jungen viel zu viel erlaube und ihn fast wie einen Erwachsenen behandle, hob dieser nur die Schultern und meinte, es sei allemal besser, der Junge komme nach dem Großvater als nach dem Vater.
Olivia wollte ihren neunten Geburtstag mit ihren drei besten Schulfreundinnen bei einem Picknick feiern. Und so saßen die vier Mädchen auf einer Decke mitten im schattigen Park und ließen sich von der Dienerschaft marzipangefüllte Teigtaschen, Bananenkekse, Kakao und Früchtesalat servieren. In ihren hellen Musselinkleidern mit den bauschigen Röcken erinnerten sie an Seerosen auf einem Teich.
Dorothea hatte sich den Tisch im Pavillon decken lassen und saß dort mit den Müttern der Mädchen bei Kaffee, Tee und englischem Rosinenkuchen. Man sprach über den neuen Klavierlehrer, den alle Schülerinnen anhimmelten. Über den neuen, gut aussehenden Präsidenten der Republik, José María Montealegre Fernandéz, der mit seiner ersten Frau dreizehn Kinder gezeugt hatte, von denen drei kurz nach der Geburt gestorben waren, und mit seiner zweiten Gattin, die er vor zwei Jahren geheiratet hatte, bereits zwei weitere Kinder bekommen hatte. Am ausgiebigsten war allerdings die Rede von dem bevorstehenden Ball im Präsidentenpalast, zu dem nur ausgewählte Gäste Einladungen erhalten hatten. So auch die Ehemänner der vier anwesenden Damen.
Dorothea hörte nur mit halbem Ohr zu, ließ die Frauen reden, nickte hier und da zerstreut, während sich mit Macht ein Erlebnis in ihre Erinnerung
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