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Das Land zwischen den Meeren

Das Land zwischen den Meeren

Titel: Das Land zwischen den Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Paredes
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ihr Skizzenbuch hervorgeholt und die majestätischen Vögel gezeichnet.
    Dass ihm ausgerechnet in diesem Augenblick seine Frau einfallen musste … Dabei wollte er gar nicht an sie denken, weder an seine Versprechen noch an seinen festen Vorsatz. Den er schon unzählige Male gefasst hatte. Immer vergeblich … Plötzlich spürte er wieder diese eigenartige innere Unruhe, die ihn in die Altstadt trieb, wo er jene Befriedigung zu finden hoffte, nach der sein Körper schmerzlich verlangte. Doch davon durfte Dorothea nichts erfahren. Weil sie nie verstehen würde, dass er diesen Kitzel so dringend brauchte. Wie die Luft zum Atmen. Antonio ließ den Hafen hinter sich und schlug den Weg durch die Gassen in Richtung des Marktplatzes ein. Dabei bewegte er sich mit dem wachsamen Blick eines Spähers, der seine wahren Absichten durch lässiges Dahinschlendern und einen gelangweilten Gesichtsausdruck verschleiert.
    Der Junge mochte kaum achtzehn Jahre alt sein. Er war klein, mager und lehnte an einer gelblichen Hausfassade, von der der Putz abbröckelte. Schon von Weitem war er anhand seiner Kleidung als Nordamerikaner zu erkennen. Vermutlich einer von denen, die ihre harte Arbeit in den weiten, rauen Prärien des Wilden Westens aufgegeben hatten, um in der bunten, tropischen Hafenstadt einen leichteren, schnelleren Verdienst zu finden. Ein speckiger schwarzer Cowboyhut, den er tief in die Stirn gezogen hatte, verdeckte ein blasses Gesicht voller Pickel. Die Füße steckten in lehmverkrusteten braunen Stiefeln.
    Der Junge stellte sich Antonio in den Weg, wiegte sich in den Hüften und streckte ihm herausfordernd eine Hand entgegen. »Zigarette, Mister?«
    Antonio wollte schon achtlos vorübergehen, zögerte aber einen Moment lang. Dann zog er sein silbernes Etui aus der Weste, öffnete es und hielt es dem Jungen hin. Mit raschem und sicherem Griff entnahm dieser sämtliche Zigaretten auf einmal. Der Junge grinste, und Antonio sah, dass ihm ein Schneidezahn fehlte. Dann fasste der Bursche nochmals zu, schloss das Etui und betrachtete das fein ziselierte Monogramm.
    »AR … Alberto Rodriguez? Arturo Regàs?«, murmelte er.
    Antonios Hand schnellte nach vorn und riss die silberne Hülle mit einer solchen Heftigkeit an sich, dass der Junge stolperte und rücklings zu Boden fiel. Die Zigaretten rollten über die staubige Straße.
    »Fucking asshole, bloody bugger«, zischelte der Junge und spuckte voller Verachtung auf den Boden, unmittelbar vor Antonios hochglänzend polierte Schuhe.
    Mit weiten Schritten eilte Antonio davon, bog an der nächsten Straßenecke in eine schmale Seitengasse ein und drückte sich in einen Hauseingang. Furchtsam sah er sich um, ob ihm jemand gefolgt war. Wie hatte er nur so leichtsinnig sein können? Er musste doch vorsichtig sein, durfte nicht auffallen, keine Spuren hinterlassen. Was, wenn der Junge mit dem Etui davongelaufen wäre? Ein derartiges Beutestück mit Monogramm wäre einer offen liegenden Visitenkarte gleichgekommen.
    Niemand folgte ihm. Erleichtert atmete er auf. Seine Kehle fühlte sich seltsam trocken an. Auf der gegenüberliegenden S traßenseite entdeckte er eine Taverne. Sie musste erst vor Ku rzem eröffnet haben, und das war gut so. Denn hier kannte ihn noch niemand. Er hatte es sich zur Regel gemacht, dieselbe Kneipe nie häufiger als alle zwei Jahre zu besuchen. Während dieser Zeit hatten meist sowohl die Besitzer als auch die Gäs te gewechselt. Musik drang durch ein offen stehendes Fenster. Eine Gitarre, eine Mandoline und zwei Männerstimmen. Sie klangen tief und rau, erzählten vom Meer, von Matrosen und ihren Liebsten, die zu Hause zurückgeblieben waren.
    Es war eine jener typischen Hafenschenken mit rauchgeschwärzten Wänden, an denen halb blinde Spiegel und bunt bemalte Tonmasken hingen. Kultische Zeugnisse der indianischen Ureinwohner. Die Luft war geschwängert von den Gerüchen nach Tabak, Schweiß und Rum. Seeleute, Hafenarbeiter und Einheimische saßen auf langen Bänken an blank gescheuerten Tischen, aßen Tortillas oder Gallo Pinto, tranken, diskutierten oder spielten Karten. Antonio lehnte sich an den Tresen, bestellte einen Zuckerrohrschnaps und leerte das Glas in einem Zug. Er orderte ein zweites Glas. Und dann spürte er ein leises Kribbeln auf dem Unterarm, an der Stelle, wo auf einmal eine sehnige fremde Hand lag. Jemand griff nach seinem Glas und schnupperte daran.
    »Riecht verdammt gut, das Zeug. Zu dumm, aber mir hat vorhin jemand meine Börse

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