Das Land zwischen den Meeren
fürchtete sich vor der Cholera, und alle sorgten sich um ihre Familien und Freunde außerhalb der Hacienda. Vicente, der junge Stallbursche, wurde damit beauftragt, sich jeden Tag zu einer bestimmten Uhrzeit an der nordöstlichen Grenze des Besitzes einzufinden. Über einen Sicherheitsabstand von einer Baumlänge erfuhr er von seinem Bruder außerhalb des Geländes die wichtigsten Neuigkeiten. Von ersten Todesfällen war die Rede, auch davon, dass die Epidemie von Soldaten eines amerikanischen Freibeuters namens William Walker eingeschleppt worden war, der sich zum Präsidenten Nicaraguas ausgerufen hatte und die Herrschaft über ganz Zentralamerika anstrebte, mittlerweile aber mit seinem Heer geschlagen worden war und die Flucht in seine Heimat angetreten hatte. Doch die Cholera war ohne die Soldaten weitergewandert, hatte mittlerweile die Städte San José, Heredia und Alajuela befallen.
Dorothea fühlte sich wie gelähmt, lebte wie unter einer Dunstglocke. In ihre Gebete schloss sie auch die Siedlerfamilien nahe Alajuela ein, Johanna Miller und ganz besonders Elisabeth, die mittlerweile eine Tochter zur Welt gebracht hatte. Doch nunmehr hatte sie seit drei Wochen nichts mehr von der Freundin gehört, die ihrerseits nichts von Dorotheas Situation wissen konnte, weil auf der Hacienda Post weder ein- noch ausging. Voller Sorge beobachtete sie ihren Mann, der zunehmend unruhig und angespannt wirkte – offenbar wartete er auf eine Nachricht, wie es dem Erpresser erging. Einerseits hoffte sie inständig, Antonio möge keine Gefahr mehr drohen, anderseits wusste sie, dass dies nur möglich war, wenn der Betreffende starb. Tage der Ungewissheit und der Angst vergingen. Glücklicherweise war bisher niemand auf der Hacienda erkrankt. Doch keiner wusste, wann die Gefahr vorüber wäre.
Eines Nachmittags kam Antonio zu Dorothea auf die Veranda, umarmte sie wortlos und stürmisch und küsste sie zuerst auf die Wange, dann auf den Mund.
»Antonio, was ist geschehen? Du bist doch sonst nicht so … so …«
»Alles wird gut, mein Liebes. Alles wird gut. Er … er ist gestorben. Es gab seit Tagen keine neuen Erkrankungen mehr. Offenbar ist die Seuche auf dem Rückzug. Wir sind gerettet.«
Nachdenklich und mit widerstreitenden Gefühlen ging Dorothea an diesem Abend zu Bett. Sie war schon am Einschlafen, da hörte sie ein Klopfen an der Zimmertür. Sie öffnete und erschrak beinahe, so ungestüm nahm Antonio sie in die Arme und küsste sie. Küsste sie immer wieder. Zuerst war sie überrascht und schließlich überwältigt von den Momenten seltener und umso kostbarerer Zärtlichkeit. Diese leidenschaftliche Begegnung nach überstandener Gefahr war der Anfang eines neuen, glücklichen Zusammenlebens. Dessen war sie sich sicher.
februar bis September 1860
Mehr als drei Stunden hatte es gedauert, bis sämtliche Papiere für die Schiffsladung ausgefertigt und unterschrieben waren. Antonio verließ das muffig riechende Kontorhaus und schlenderte zum Hafen hinunter. Er liebte es, in diese laute, quirlige Atmosphäre einzutauchen. Eins zu werden mit der ungewohnten Umgebung und den fremden Menschen. Er beobachtete, wie Kaffeesäcke auf die großen Segelschiffe geschleppt und im Gegenzug Güter aus Europa ausgeladen wurden. Kisten mit Tee, Wein, Möbeln, Stoffen, Büchern – Waren, auf die zahlungskräftige Costaricaner monatelang geduldig warteten. Einige Frauen verkauften an behelfsmäßigen Ständen Fisch, Früchte und gebrauchte Kleider. Kinder tollten mit einem Hund umher, bewarfen sich mit Steinchen oder narrten Passanten, indem sie deren Gesten nachäfften.
Die Zahl der aus Europa stammenden Passagiere, die in Costa Rica einwanderten, hatte in den letzten Jahren zugenommen. Und da standen sie nun mit ihren Koffern und Tragekörben, hofften auf eine bessere Zukunft. Ihren Gesichtern waren die Strapazen der langen Überfahrt anzusehen. Einige von ihnen würden in diesem Land eine neue Zukunft finden. Andere irgendwann die Rückreise antreten, wenn sie in der Fremde gescheitert, von Heimweh oder Krankheit aufgezehrt waren.
Antonio blickte aufs Meer hinaus, sah den zarten weißen Wolken hinterher, wie sie gemächlich am Küstensaum entlangzogen. Ein Großsegler hatte die Mitte des Golfes von Nicoya erreicht und nahm mit geblähten Segeln Kurs auf Panama. Eine Schar Pelikane umkreiste ein Fischerboot, das soeben an der Kaimauer festgemacht hatte, und erwartete wohl leichte Beute. Dorothea hätte bei dieser Gelegenheit gewiss
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