Das Land zwischen den Meeren
drängte, das ihr noch immer Schauer über den Rücken jagte. Es war am Vortag gewesen. Sie hatte sich mit der Kutsche nach San José bringen lassen, um einen neuen Vorhangstoff für Olivias Zimmer auszusuchen, und danach noch eine Weile in der Kirche gesessen. Ihr Schwiegervater hätte niemals seinen Fuß in ein Gotteshaus gesetzt, also tat auch Isabel es nicht. Antonio hielt die Teilnahme an Sonntagsmessen für Zeitverschwendung, und so passte Dorothea sich den Familiengepflogenheiten an und besuchte nur dann das Gotteshaus, wenn sie allein unterwegs war.
Sie liebte diesen Ort der Stille und Kühle mitten in der Stadt, wo es immer nur laut und unruhig zuging, wo Fuhrwerke über schlechte Straßen holperten, die Menschen miteinander diskutierten, feilschten und handelten. Es war eine besondere Art der Stille, denn selbst in den entlegensten Ecken der Hacienda war immer das Rauschen des Baches zu hören. Ein ruhiges und gleichförmiges Plätschern an trockenen Tagen, ein Brausen bei Gewittern und Regengüssen.
Vor nunmehr zwölf Jahren war sie nach Costa Rica gekommen, hatte gute und schlechte Zeiten erlebt und doch nie bereut, hierher ausgewandert zu sein. Hatte nie gezweifelt, dass es richtig gewesen war, ihre Heimat zu verlassen, einen Schlussstrich zu ziehen unter die Vergangenheit mit all den schmerzlichen Erinnerungen. Manchmal stellte sie sich vor, wie es gewesen wäre, wenn sie dieses Land an Alexanders Seite betreten hätte. Doch wäre sie dann immer noch hier? Womöglich wären sie irgendwann nach Deutschland zurückgekehrt, höchstwahrscheinlich nach Bonn, in Alexanders Heimatstadt, denn in Köln hätte Dorothea nicht mehr leben können und wollen. Müßige Gedanken. Außerdem führte sie in Costa Rica ein Leben, um das die meisten Menschen sie beneideten.
Als sie wieder nach draußen ins Freie trat, wäre sie beinahe mit einem Burschen zusammengestoßen, der mit seinem Handkarren voller Palmfrüchte im Laufschritt neben dem Kirchenportal um die Ecke bog. Sie hielt eine Hand an die Hutkrempe, weil die gleißende Sonne sie blendete. Plötzlich sah sie eine Gestalt die Straße entlanggehen, bei deren Anblick ihr das Herz bis zum Hals schlug. Sie kniff die Augen zusammen und glaubte zu träumen. Denn dieser Mann hatte die gleiche Figur, das gleiche lockige lange Haar und die gleiche Art, beim Gehen den Oberkörper leicht vorzuneigen, wie – Alexander.
Ganz von selbst setzten ihre Beine sich in Bewegung. Sie lief um die Häuserecke, hinter der der Mann verschwunden war, eilte die Straße entlang bis ganz zum Ende und wieder zurück, geriet völlig außer Atem. Aber der Mann war und blieb verschwunden. Sie hatte geträumt, hatte sich von ihrer eigenen Fantasie narren lassen. Erschöpft lehnte sie sich gegen eine Hauswand, während ihre Hand Halt an dem Medaillon unter ihrem Kleid suchte. Mit einem Mal ahnte sie, was eine Fata Morgana war. Wenn ein Verdurstender in der Wüste das zu sehen glaubt, wonach er sich am meisten sehnt.
»Welches Kleid werden Sie denn beim Ball tragen, Señora Ramirez?« Die Frage von Francesca Picado Dobles, der geschwätzigen Frau des Verkehrsministers, riss Dorothea in die Gegenwart zurück.
»Ich weiß noch nicht … Ich glaube, die Entscheidung überlasse ich meinem Gatten. Er hat ein untrügliches Gespür dafür, was mir am besten steht.« Und sie kostete die Blicke der drei Frauen aus, in denen sie Respekt, aber auch Neid las.
Als die Geburtstagsgäste gegangen waren, nahm Dorothea Olivia bei der Hand, wirbelte sie einmal herum und ging mit ihr zur Veranda. »Mein süßer Schatz! Wenn ich daran denke, wie ich dich vor Kurzem noch in den Armen gehalten habe … Und jetzt bist du schon neun Jahre alt! Ach, komm noch einmal auf meinen Schoß! So wie früher.«
Sie setzte sich in einen Korbsessel, wollte die Tochter zu sich heranziehen und auf die Wange küssen, doch Olivia entzog sich ihr und verschanzte sich hinter einem Rosenkübel, verschränkte die Arme vor der Brust. Stand da wie die schlechte Laune in Person.
»Ich hasse es, wenn du mich immer abküssen willst. Das ist ekelhaft. Ich bin kein Kleinkind mehr.«
»Aber Olivia, ich will doch nur …«
»Mein Geburtstag war ganz blöde. Lorenza und Inés haben sich gestritten, und dann wollte ich als Erste auf dem Wasserturm sein, und dann sagte Amelia, ich hätte schiefe Zähne und sei dumm, und dann haben sie sich zusammengetan, und auf einmal waren alle gegen mich. Ich werde nie mehr Geburtstag feiern. Nie
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