Das Land zwischen den Meeren
einen Mann fürs Herz zulegen.«
»Das … das ist nicht dein Ernst.«
»Doch, jedenfalls sähe ich es so.« Elisabeth beugte sich vor und drückte Dorothea einen Kuss auf die Wange. »Danke, dass du mich eingeweiht hast, meine Liebe. Aber jetzt muss ich meine Gäste verabschieden. Und danach gehen wir alle zusammen auf den Markt, was meinst du?«
Dorothea nickte matt und rieb sich die brennenden Schläfen. Ihr Verstand weigerte sich, den unmoralischen Standpunkt der Freundin zu teilen. Wie konnte Elisabeth angesichts eines Verhaltens, das nicht nur gegen den gesunden Menschenverstand, sondern auch gegen die Regeln der Heiligen Schrift verstieß, so gleichmütig bleiben? Lag es daran, dass sie Österreicherin war? Oder weil sie als Adlige eine andere Erziehung genossen hatte, eine Erziehung, die sie zur Freidenkerin gemacht hatte?
Durch das offene Fenster drang das Lachen der beiden Mädchen zu ihr ins Zimmer. Sie blickte hinaus und sah, wie Olivia und Marie sich an den Händen hielten und um die Sandburg herumhüpften. Um sich von ihren zwiespältigen Gefühlen abzulenken, nahm sie ihr Skizzenbuch aus dem Koffer und hielt diese Szene voller Anmut und Fröhlichkeit fest. Während der Stift mit einem leisen Kratzgeräusch über das Papier glitt, wurde sie allmählich ruhiger. Sie beschloss, zumindest an diesem Tag nicht mehr über Elisabeths fragwürdige Ansichten nachzudenken. Auch wenn die Freundin noch so lebensklug war, so konnte sie sich doch irren. Von nun an wollte Dorothea jede Sekunde ihres Aufenthaltes am Meer, fern von den Zwängen auf der Hacienda, aus tiefstem Herzen genießen.
Die beiden Mädchen hatten keine Lust, ihre Mütter auf den Markt zu begleiten. Viel lieber wollten sie mit Lorenza, der alten Nachbarin mit dem zahmen Kapuzineräffchen, Bananenkuchen backen. Und so machten die beiden Frauen sich allein auf den Weg in den Ort. Auf dem Platz vor der Kirche hatten die Händler ihre Verkaufsstände aufgebaut und priesen unter hellgrauen Zeltplanen lautstark ihre Waren an. Dorothea fiel auf, dass vor allem Kleidung, Hausrat und Kleinmöbel angeboten wurden. Sie entdeckte ein Schultertuch aus blassrosa Spitze, so filigran gearbeitet wie ein Spinnennetz. Das wollte sie ihrer Schwiegermutter mitbringen, weil es so gut zu der hellen Kleidung passte, die Isabel ausschließlich trug.
Elisabeth war bereits weitergegangen und kaufte Fisch und Gemüse ein, tauschte mit den Händlerinnen wort- und gestenreich den neusten Klatsch und Tratsch aus. Hier musste sie eine Dattel, dort ein Stückchen Käse kosten. Die selbstverständliche Art, wie die Freundin sich unter den Einheimischen bewegte, machte deutlich, dass diese sie als eine der Ihren ansahen. Dorothea selbst konnte leider keine derartigen Einkäufe zu Hause tätigen. Dafür war die Köchin zuständig. Der Geruch von Gewürzen schwebte über dem Platz – Chili, Ingwer, Muskat und Piment. Ein zahnloser alter Mann breitete Tabakblätter auf einem Holzbrett aus und rollte Zigarren. Nichts konnte seine Konzentration stören, er war ganz in seine Arbeit vertieft.
Kurz vor Ende ihres Rundganges fesselte ein kleiner Stand Dorotheas Aufmerksamkeit. Dort bot eine junge Indianerin Töpferwaren an. Schalen, Krüge und Masken aus ockerfarbenem Ton mit schwarzen und roten Motiven oder aus dunkelgrauem Material, in das Muster eingeritzt waren, durch die der weiße Untergrund hindurchschimmerte. Elisabeth hatte solche Tongefäße im Frühstücksraum ihrer Pension dekoriert, doch hier, im gleißenden Sonnenlicht, übten sie einen besonderen Zauber aus.
»Kann ich Ihnen helfen, Señora?« Die junge Frau war kaum älter als zwanzig, hatte ein ebenmäßiges Gesicht mit mandelförmigen dunklen Augen und einen vollen, lächelnden Mund. Das tiefschwarze Haar war im Nacken zu einem dicken Zopf geflochten und reichte bis zu den Hüften. Dorothea hätte die Indianerin gern gezeichnet, mochte aber nicht fragen, weil sie ein solches Ansinnen womöglich als unangemessen empfunden hätte.
»Ich weiß noch nicht … Die Stücke sind alle wunderschön und so geheimnisvoll.«
»Die haben die Frauen in unserer Familie getöpfert. Wir sind Chorotega-Indianer und leben in Guaitil. Einmal im Monat kommen wir hierher auf den Markt. Diese Muster und Farben haben unsere Vorfahren schon vor vielen tausend Jahren verwendet.«
Dorothea nahm einige Stücke in die Hand, bewunderte die kunstfertige Ausführung, den warmen perlmuttfarbenen Glanz und die Zeichnungen, die Tiere, Pflanzen
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