Das Land zwischen den Meeren
und fremdartige Gesichter darstellten oder Linien und Muster zeigten. Seit zwölf Jahren lebte sie in diesem Land und wusste trotzdem fast nichts von dessen Traditionen. Sie hatte zwar die Schönheit der Landschaft kennen und lieben gelernt, aber ausschließlich Kontakte zu Menschen geknüpft, die als Nachfahren europäischer Einwanderer auch europäische Traditionen pflegten. Wie anders wäre ihr Blick auf dieses Land gewesen, wäre sie seinerzeit mit Alexander hierhergekommen und hätte mit ihm abenteuerliche Reisen in unentdeckte Gegenden unternommen …
Um sich von ihren Erinnerungen und der Trauer um ihre verlorenen Hoffnungen abzulenken, ließ Dorothea sich einen besonders schön gestalteten Krug reichen, den ein springender Affe zierte. Dabei fielen ihr an den Unterarmen der Indigena mehrere Blutergüsse auf. Und dann bemerkte sie auch noch einen blauschwarzen Fleck an deren Hals. »Sind Sie irgendwo gestürzt?«, fragte sie mitfühlend.
Verschämt zog die junge Frau die Ärmel ihrer Bluse herunter. »Ich … ich bin über eine Baumwurzel gestolpert.« Doch ihre stockend vorgebrachte Begründung klang nur wenig glaubhaft. Dorothea kaufte zwei Schalen und eine Vase für ihr Zimmer auf der Hacienda und zahlte den geforderten Preis, ohne zu handeln. Als Erinnerung an die Begegnung mit der schönen Indianerin und an die Wochen bei Elisabeth.
»Das war sicher der Vater«, vermutete die Freundin, der Dorothea auf dem Nachhauseweg von ihrer Beobachtung erzählt hatte, und ihre Stimme klang bitter. »Immer wenn er getrunken hat, schlägt er seine Tochter und behauptet, sie hätte nicht genug Waren verkauft und sich stattdessen mit Männern herumgetrieben. Diese Indianerinnen sind viel zu duldsam. Sie sollten ihren prügelnden Vätern und Männern einfach davonlaufen und sich zusammentun, um stolz und in Würde ihr eigenes Leben zu führen.«
Mit Entsetzen und Abscheu vernahm Dorothea die Erklärung Elisabeths und fühlte, wie ohnmächtige Wut in ihr aufstieg. Doch wie hätte sie helfen können? Das schöne Gesicht und die geschundenen Arme der jungen Indiofrau verfolgten sie bis in den Schlaf.
Auch wenn Dorothea mit aller Macht versuchte, nicht mehr an das heikle Gespräch zu denken, in dem sie die Wahrheit über ihre Ehe ausgesprochen hatte, so gingen ihr Elisabeths Worte nicht aus dem Sinn. Fast schien es, als zeige diese eher Verständnis für die Situation des Ehemannes als für die seiner Frau. War Elisabeth überhaupt eine echte Freundin, auf deren Urteil Verlass war? Plötzlich sehnte sich Dorothea nach der Hacienda Margarita zurück, nach den Kaffeefeldern, der Bank auf der Anhöhe, dem Rauschen des Baches, das sie noch des Nachts in ihrem Zimmer hörte. Elisabeth nickte nur, als Dorothea ihr erklärte, sie wolle rechtzeitig zum Weihnachtsfest wieder zu Hause sein, und schlug vor, am Abend vor der Abreise einige Nachbarinnen einzuladen.
Die meisten Frauen waren Indigenas, junge und alte. Sie saßen im Sand rings um das Feuer, das die Gesichter in ein sanftes orangerotes Licht tauchte. Auf dem Rost garten Maiskolben und Fleischspieße, dazu tranken alle Wein und Rum, erzählten und lachten viel. Wieder einmal bewunderte Dorothea die Art, wie diese Frauen, schlanke wie füllige, anmutig und stolz einherschritten, mit einer Grazie und Leichtigkeit, die ihnen angeboren sein musste.
Ein junges Mädchen hatte eine Gitarre mitgebracht, ein anderes eine Flöte. Sie spielten und sangen fremde Rhythmen in einer unbekannten Sprache, und es klang wundervoll in Dorotheas Ohren. Bald klatschten die Frauen im Takt mit. Dann plötzlich sprangen alle auf und tanzten um das Feuer herum. Zuerst jede für sich, doch schließlich fassten sie sich an den Händen und bildeten einen Kreis. In der Mitte die züngelnden Flammen, über ihnen der endlos weite und klare tropische Sternenhimmel. Ein eigenartiger Zauber lag über diesem Beisammensein. Dorothea spürte, wie Wärme sie durchströmte, und wünschte sich, diese Nacht möge nie enden.
»Servus und Busserl, meine süße Livi. Und schreib mir gleich, wenn ihr zu Hause angekommen seid!«
Elisabeth umarmte zuerst die Patentochter und dann Dorothea. Ihr Blick war ungewöhnlich ernst. »Ich wünsche mir von Herzen, dass unsere Freundschaft so bestehen bleibt, wie sie bisher war, und uns nichts auseinanderbringt.«
Dorothea schluckte einige Male »Danke für die schöne Zeit bei dir, Elisabeth. Ich muss über mich nachdenken … herausfinden, wo ich stehe und wohin ich gehen
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