Das Land zwischen den Meeren
will.«
Gerührt beobachtete sie, wie Olivia und Marie sich herzten und voneinander Abschied nahmen. Dennoch fühlte sich irgendetwas in ihrem Innern dumpf und betäubt an. Sie strich Marie über das Haar und stieg auf ihr Muli, wandte sich nicht mehr um, als der Führer die kleine Karawane aus dem Ort hinaus nach Norden lenkte, während die Sonne sich im Osten über den Wipfeln des Regenwaldes erhob.
Dezember 1860 bis Mai 1861
Wenige Tage vor Weihnachten ritten Dorothea und Olivia auf ihren Mulis durch das Eingangstor der Hacienda Margarita. Antonio kam ihnen schon entgegen, umarmte Dorothea stürmisch und ausdauernd, schien sie gar nicht mehr loslassen zu wollen.
»Ich bin so froh, dass ihr wieder zu Hause seid! Ich hatte schon befürchtet, du kämst nie wieder zurück«, flüsterte er ihr erleichtert ins Ohr und küsste sie ungeniert vor aller Augen.
Ihr Herz klopfte. Für einen winzigen Moment war sie voller Zuversicht. Denn diese zärtliche Geste konnte nur eins bedeuten: Ihr Mann hatte sein Versprechen wahr gemacht. Er hatte sich tatsächlich geändert. Nun würde alles gut werden. Doch als sie glückselig eine Wange an seine Brust schmiegte, bemerkte sie auf seinem Revers ein kurzes hellbraunes Haar, das weder von ihm noch von seinem kleinen Sohn stammen konnte. Von einer Sekunde auf die andere war ihre Wiedersehensfreude verflogen.
Ein neues Jahr brach an, und Dorothea fragte sich, was es wohl an Freude, Leid und Überraschungen für sie bereithielt. Ein eigenartiges Gefühl der Leere hatte sich seit ihrem letzten Besuch bei Elisabeth in ihr ausgebreitet. Die Erinnerung an die zunächst unbeschwerten Tage am Meer hatte einen bitteren Beigeschmack bekommen. Mit einem Mal war ihr die Freundin, die so freizügig dachte und handelte, fremd geworden. Sie hatte sich wohl in ihr getäuscht, ihren Scharfsinn falsch eingeschätzt.
Johanna Miller, die lebensfrohe Vertraute aus ihren Anfangstagen in Costa Rica, war kurz vor Silvester im Alter von neunundsiebzig Jahren friedlich entschlafen. Dorothea hatte sich bei der Beerdigung, zu der etliche schweizerische Landsleute gekommen waren, einige Tränen aus den Augenwinkeln gewischt. Sie wusste, dass sie eine mütterliche Freundin verloren hatte.
Nun war sie ganz auf sich allein gestellt. Fragte sich immer öfter, was sie aus ihrem Leben gemacht hatte. Und ob einmal am Tag des Jüngsten Gerichtes, wenn sie Rechenschaft ablegen musste vor dem Herrn, die guten Taten die schlechten überwiegen würden. Das Schicksal hatte ihr ein komfortables Leben beschert, zumindest in diesem Punkt musste sie Elisabeth recht geben. Wurde es da nicht Zeit, etwas zurückzugeben? Anstatt immer nur über sich selbst nachzusinnen und in Lethargie zu versinken? Ein Brief der Patentante, der sie ihren Alltag immer nur in rosigsten Farben geschildert hatte, damit diese sich nicht sorgte, vertiefte ihre Niedergeschlagenheit nur noch.
Meine liebe Dorothea! Ich bin immer froh, wenn ich einen Brief von Dir erhalte und dann lese, wie gut es Dir geht auf Deiner Hacienda. Mit Deinem wunderbaren Mann und den beiden süßen Kindern. Vielen Dank für die Zeichnungen, die Du beim letzten Mal dazugelegt hast. Ich spüre richtig, wie glücklich Ihr miteinander seid. Wenn Du doch nur nicht am anderen Ende der Welt leben würdest! Wie gern würde ich Dich wiedersehen und Deine Familie kennenlernen. Schreib nur recht oft, meine Liebe, und schick mir Skizzen, so kann ich auch aus der Ferne mit meinen Gedanken und meinem Herzen bei Euch sein. Heinrich ist mir ein braver Ehemann. Wir verstehen uns gut und lachen viel. Allerdings fühle ich mich in letzter Zeit manchmal schwach. Wenn ich morgens aufwache, sind die Glieder ganz steif und schwer. Meine Fingerknöchel sind geschwollen. Die Knoten werden immer dicker und wollen einfach nicht weggehen. Nun, ich will nicht wehklagen. In diesem Jahr werde ich fünfundsechzig. Da muss man schon mal daran denken, dass man nicht ewig lebt.
Aber vor allem sollst Du wissen, wie stolz ich bin, eine so tüchtige und mutige Patentochter zu haben. Jetzt muss ich mich aber beeilen und zum Markt gehen und für das Mittagessen einkaufen. Seitdem ich mit Heinrich verheiratet bin, können wir uns sogar einmal in der Woche Fleisch leisten, und ich danke unserem Herrgott jeden Abend, weil er mir einen so guten Mann an die Seite gegeben hat. Ich umarme Dich und erflehe Gottes Segen für Dich und Deine Familie. Deine Tante Katharina.
Mit großer Zärtlichkeit dachte Dorothea an die
Weitere Kostenlose Bücher