Das Land zwischen den Meeren
des Domes mit dem hoch aufragenden Baukran in den Himmel erhob. Obwohl nur die Breite des Flusses zwischen den beiden Städten lag, schien Dorothea doch in der Fremde angekommen zu sein.
Als sie ein schmerzhaftes Ziehen im Unterleib verspürte, hielt sie inne. Sie setzte den Koffer ab, der ihr mit einem Mal so schwer vorkam, als wäre er mit Steinen gefüllt. Nachdem sie eine Weile verschnauft hatte, hob sie den Koffer vorsichtig an, setzte langsam einen Fuß vor den anderen. Der Schmerz blieb unverändert stark. Nach nur wenigen Schritten musste sie erneut eine Pause einlegen, wechselte anschließend den Koffer in die andere Hand. Ein leichter Schwindel befiel sie. Was war nur mit ihr? Sie wurde doch nicht etwa krank?
Das durfte nicht sein, nicht jetzt, da sie stark sein musste. Der Weg erschien ihr endlos lang, bis sie schließlich das efeuumrankte alte Haus erreichte, dessen Giebel ein Eckturm überragte. Da erst fiel ihr ein, dass sie gar nicht wusste, ob die Patentante überhaupt zu Hause war. Die Umrisse der benachbarten Häuser verschwammen in diffusem Licht. Es dämmerte.
Katharina Lützeler nähte mit festen Stichen einen Hornknopf an die Herrenjacke und schnitt den Faden ab. Sie war gerade noch rechtzeitig fertig geworden, bevor das Tageslicht zu schwach wurde. Am nächsten Morgen würde sie die Kleidungsstücke, die sie innerhalb der letzten Tage ausgebessert hatte, zu den Besitzern zurückbringen. Kunden, die entweder keine Zeit zum Nähen hatten wie die vielbeschäftigte Bäckersfrau mit den sechs Kindern oder die zu ungeschickt waren wie die evangelische Pfarrersfrau, die sich den Ärmel ihres seidenen Sonntagskleides eingerissen hatte. Auch Männer waren dabei, denen es an einer Frau oder Haushaltshilfe mangelte wie der ehemalige Musiklehrer, dem sie ein neues Futter in seine Weste genäht hatte, weil er sich einen teuren Ersatz nicht leisten konnte.
Katharina war froh über jeden Auftrag und störte sich nicht an den von spitzen Nadeln zerstochenen Fingerkuppen. Daran hatte sie sich mittlerweile gewöhnt. Sie brauchte das Geld zum Überleben. Als ihr Mann vor zwölf Jahren gestorben war, hatte er nicht nur die Einkünfte aus seiner Tischlerei, sondern auch die kleine Erbschaft ihrer Tante versoffen. Damals war sie einundvierzig und musste sich von einem Tag auf den anderen auf eigene Füße stellen. Seither nähte sie für andere und zehrte von der Erinnerung an bessere Tage, die sie und ihr Erwin durchaus erlebt hatten. Dabei konnte sie von Glück sagen, dass sie ihre alte Wohnung bisher nicht hatte aufgeben müssen. Die Vermieter scherten sich nicht viel um Geld, wollten lediglich anständige Leute im Haus haben. Allerdings hatte Katharina nach und nach ihre besseren Möbel und die meisten Porzellanstücke verkaufen müssen. Doch ihr genügte das Wenige, das ihr geblieben war.
Sie legte die Brille ab, rieb sich die müden Augen und zündete eine Petroleumleuchte auf dem Küchentisch an. Dann machte sie sich am Herd zu schaffen und wärmte die Kartoffelsuppe vom Mittag auf. Als es an der Haustür klopfte, hielt sie inne. Seltsam, sie erwartete gar keinen Besuch. Und auch der Mieter über ihr, ein schwerhöriger pensionierter Pianist, hatte noch nie einen Gast in seiner Wohnung empfangen, weil er sich mit dem Verlust seines Gehörs von den Menschen zurückgezogen hatte. Vorsichtig entriegelte sie die Tür und spähte durch den Spalt. Sie musste einige Male blinzeln, bevor sie erkannte, wer da draußen vor ihr stand.
»Dorothea, welche Überraschung! Aber warum hast du nicht geschrieben, dass du zu Ostern kommst? Ich hätte Fisch und Gemüse zum Essen gekauft, vielleicht auch etwas Käse … Ach was, jetzt bist du da. Lass dich erst einmal umarmen!«
Dorothea stellte den Koffer ab und fiel der Patentante um den Hals, fühlte sich sicher an ihrem breiten, weichen Busen. »Ich bin so froh, bei dir zu sein«, murmelte sie. »So froh.«
»Aber Kind, du zitterst ja. Komm schnell herein! Ich wollte gerade die Suppe für das Abendessen aufsetzen. Sie reicht allemal für zwei. Du magst doch Kartoffelsuppe, oder?«
Dorothea folgte der Patentante in die Küche, in der auch ein altes Sofa und eine Kommode aus dem früheren Wohnzimmer standen. Was den Vorteil hatte, dass Katharina nur noch einen einzigen Raum heizen musste.
»Lass dich anschauen, mein Kind. Groß bist du geworden, ja. Aber blass siehst du aus. Und du bist mager. Viel zu mager. Ich werde dir deine Lieblingsgerichte von früher kochen.
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