Das Land zwischen den Meeren
machen.«
»Geh nur, mein Kind, die frische Luft wird dir guttun. Leider kann ich nicht mit dir kommen. Ich habe einer Kundin versprochen, ihren Mantel bis übermorgen enger genäht zu haben. Wenn du zurückkommst, backe ich uns Pfannkuchen. Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen, hat schon meine Großmutter gesagt.«
Dorothea trat auf die Straße, wo ihr ein milder Frühlingswind entgegenwehte. Über der Stadt spannte sich ein strahlend blauer Himmel. Sie schlenderte zum Rheinufer hinunter, sah die Deutzer Bürger, die auf der ulmengesäumten Promenade ihren Osterspaziergang unternahmen. Familien mit Kindern, die ihre bunten Holzreifen aus dem Winterschlaf geholt hatten und diese über die geglätteten Pflastersteine rollen ließen. Junge Mädchen mit blütengeschmückten Strohhüten, die untergehakt daherflanierten und taten, als würden sie die Blicke und Pfiffe der Burschen und Studenten nicht bemerken. Zwei etwa zehnjährige Knaben hielten sich hinter einem dicken Baumstamm versteckt und erschreckten ahnungslose Spaziergänger mit lauten Buhrufen.
Dorothea bewegte sich inmitten dieser Menschen und fühlte sich doch fremd. Eine Treppe unterhalb der Ufermauer führte zu einem Bootssteg. Sie stieg hinab und blickte auf das sanft gekräuselte Wasser. Reglos verharrte sie dort und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Fühlte sich so frei wie die Möwen, die über dem Fluss ihre Runden zogen. Was hielt sie noch auf dieser Welt? Wer würde sie vermissen, wenn sie sich den friedlich dahinplätschernden Fluten hingäbe?
Mit einem Mal erschien ihr das blaugrüne Wasser sanft, gütig und verlockend. Etwas drängte sie, den Fuß auf diese glitzernde Oberfläche zu setzen und darüber hinwegzuschweben. Wie auf einem Tanzboden, während Alexander ihr den Arm um die Taille legte, sie herumwirbelte und ihre Füße den Boden kaum berührten. Ja, sie wollte tanzen, endlos lange tanzen, sich im Takt der Musik wiegen, sich drehen und alles vergessen. Melodien drangen aus der Ferne an ihr Ohr, voller Zauber und Geheimnis. Eine leise Berührung an ihrer Schulter. Nur ein kleiner Schritt und dann …
»Meine Puppe! Ich habe meine Puppe verloren! An dieser Stelle ist sie hinuntergefallen. Ich habe es genau gesehen.«
Dorothea blickte auf und entdeckte ein verweintes Mädchengesicht über sich. Das Kind deutete mit dem Finger auf sie und schluchzte. »Ohne meine Puppe kann ich nicht einschlafen. Anna, wo bist du? Anna!«
»Du musst nicht weinen. Deiner Anna ist nichts geschehen.« Dorothea hob ein schmutziges, zerfetztes Stoffknäuel vom Boden auf und stieg die Stufen zur Promenade hinauf. Das Mädchen ergriff die Puppe und rannte wortlos davon.
Dorothea blieb noch eine Weile auf einer Bank an der Promenade sitzen und ließ die Blicke über das jenseitige Rheinufer schweifen, sah die Türme der alten Kölner Kirchen, die die Häuser der Altstadt überragten, und den noch unvollendeten Dom, über dem sich in leuchtenden Farben ein Regenbogen spannte. Und sie dankte dem Herrn, der ihr gerade noch rechtzeitig das Mädchen mit der Puppe und dieses farbenfrohe Zeichen am Himmel geschickt hatte. Als Mahnung, dass nicht sie darüber zu entscheiden hatte, wann ihr Leben zu Ende gehen sollte, weil alles in Gottes Hand und Macht lag. Und mit einem Mal sah sie alles ganz klar und wusste, welchen Weg sie gehen musste.
April 1848
»Und du willst die lange Reise wirklich ganz allein wagen? Was wird, wenn du dort angekommen bist? Wovon willst du leben?« Katharina Lützeler zerteilte den Pfannkuchen mit einer Gabel und goss einen kräftigen Schuss Zuckerrübensirup darüber. Sie nahm einen Bissen und warf der Patentochter einen zweifelnden Blick zu.
Dorothea nickte nachdrücklich und entschlossen. »Ja, ich werde nach Costa Rica reisen, so wie ich es zusammen mit Alexander geplant hatte. Ein unbekanntes Land kennenlernen, in dem nur Sommer und nie kalter Winter herrscht. Pfarrer Lamprecht hat mir erzählt, dort würden Lehrer für deutsche Aussiedlerkinder gesucht. Ich bin zwar kein Mann, aber bestimmt stellt man auch eine Lehrerin ein. Vielleicht kehre ich in ein, zwei Jahren nach Deutschland zurück. Wenn ich genügend Abstand gewonnen habe. Mein inneres Gleichgewicht wiedergefunden habe. Aber vielleicht bleibe ich auch für immer dort.«
»Das ist ganz schön mutig für eine junge Frau.«
»Aber nein, Tante Katharina, mit Mut hat das nichts zu tun. Doch hier würde mich alles an die Zeit mit Alexander erinnern. Und ich wäre
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