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Das Land zwischen den Meeren

Das Land zwischen den Meeren

Titel: Das Land zwischen den Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Paredes
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Umgebung in ein warmes gelbes Licht. Und plötzlich sah Dorothea ihre Lage so klar wie nie zuvor. Sie hatte eine Zukunft, weil unter ihrem Herzen ein Teil ihrer und Alexanders Seele zu einem neuen Lebewesen heranwuchs. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Denn sofern sie ihre Seele nicht preisgeben und sich selbst aufgeben wollte, blieb ihr kein anderer Weg als dieser.
    Sie zog den braunledernen Koffer unter dem Bett hervor, den sie schon als junges Mädchen mitgenommen hatte, wenn sie während der Schulferien für einige Tage ihre Patentante besucht hatte. Dann suchte sie die zwei schlichtesten Kleider, Weißwäsche und Leinentücher, Nachthemden, zwei Schultertücher, Geburtsurkunde und Ausweispapiere zusammen. Jeder ihrer Handgriffe war sicher und konzentriert. Sie schloss den Sekretär auf, nahm ihre Skizzenbücher und eine Schatulle mit Kreidestiften heraus, außerdem einen dunkelblauen Samtbeutel mit dem Geld, das sie in der Zeit als Hauslehrerin angespart hatte.
    Schließlich zog sie den Mantel an und knotete die Bänder ihres Hutes fest unter dem Kinn zusammen. Ein letztes Mal ließ sie die Blicke durch das Zimmer schweifen, prägte sich alle Einzelheiten deutlich ein, wollte sie für immer ins Gedächtnis einbrennen. Mit den Fingerkuppen strich sie über die Bettdecke, die kleine Kommode neben dem Fenster, die Lehne ihres Korbstuhles, in dem sie so manche Stunde lesend verbracht hatte. Grübelnd, gedankenversunken und oftmals traurig. Wirklich unbeschwert und frei hatte sie sich nur in Alexanders Gegenwart gefühlt. Für die Dauer von kaum mehr als sechs Monaten. Eine kostbare, viel zu kurze Zeit ihres Lebens.
    Alexander wäre sicher stolz auf seinen Sohn oder seine Tochter gewesen … Tapfer unterdrückte sie das aufkommende Schluchzen, denn sie wollte sich nicht bemitleiden. Was auch immer geschah, sie würde nicht untergehen, sondern kämpfen. Das war sie dem Geliebten schuldig. Ihrem Kind. Sich selbst!
    Lautlos drückte sie die Klinke hinunter und schloss die Tür hinter sich. Als sie das Treppenhaus erreicht hatte, rannte sie los. Dabei hielt sie sich am Geländer fest, um die Stufen nicht zu verfehlen. Sie eilte an der dunklen Eichentür vorbei, hinter der sich die Praxis des Vaters befand, wo er sich um seine Studien kümmerte, die ihm wichtiger waren als alles andere auf der Welt. Draußen vor dem Haus wandte sie sich nach rechts, ging den Neumarkt in Richtung Rheinufer entlang. Und ahnte, dass in diesem Augenblick etwas endete, das sie nie wieder zurückholen konnte.

BUCH II
    Hoffnung

April 1848
    »Na, Frolleinchen, wo soll’s denn hingehen?« Der Brückenwart, ein untersetzter Rothaariger mit Stoppelbart und einer kräftigen Alkoholfahne, schob seine Kappe in den Nacken und musterte Dorothea schräg von der Seite.
    »Nach Deutz.«
    »Was Sie nicht sagen. Ich meine, wohin wollen Sie, wenn Sie drüben sind? Wir könnten nachher noch ein Weinchen zusammen trinken. In einer Stunde habe ich Feierabend.«
    Dorothea schwieg eisern, hoffte, der vorlaute, dickliche Mann werde sich endlich auf seine Pflicht besinnen.
    »Nun lass das Fräulein doch passieren! Merkst du nicht, dass die nichts von dir wissen will?«, rief ein alter Fischer mit wettergegerbtem Gesicht, der mit seinem Boot an einem Poller neben der Brücke festgemacht hatte. Einige Möwen flogen heran, ließen sich auf dem Bootssteg nieder und hofften auf leichte Beute.
    Der Brückenwart zog ein beleidigtes Gesicht und musterte Dorotheas Koffer. »Ich meine es ja nur gut. Wenn eine junge Dame allein auf Reisen geht, braucht sie doch einen Beschützer.«
    Es fiel Dorothea schwer, höflich zu bleiben. »Würden Sie mich jetzt bitte passieren lassen?«, presste sie mühsam zwischen den Zähnen hervor.
    Betont langsam zog der Rothaarige die Schranke hoch und streckte die Hand vor, um das Wegegeld entgegenzunehmen. »Eingebildete Frauensperson«, zischte er, als Dorothea die Brücke betrat. Diese verband die beiden Ufer des Rheins miteinander und ruhte auf vierzig Nachen. Mehrere Male am Tag wurde der herausklappbare mittlere Teil von kräftigen Ruderern zur Seite bewegt, damit Schiffe stromauf- und stromabwärts hindurchfahren konnten.
    Im Weitergehen spürte Dorothea, wie die Planken unter ihr schwankten, und war froh, als sie am Deutzer Ufer wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Sie wandte sich um und blickte zum jenseitigen Ufer hinüber, wo die Häuser vom Holzmarkt und vom Alten Markt zu sehen waren und wo sich zur Rechten die Silhouette

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